Netzwerk-Theorie
(1) Stanley-33-Havard-University
(Boston, 20. Dezember 1967)
„Nur sechs, sagst du? Was für ein Ergebnis, Stanley! Glückwunsch. Ich bin wieder tief beeindruckt. Gerade erst hast du uns mit einem höchst zweifelhaften Experiment erklärt, wie es im Nationalsozialismus zu einem der schlimmsten Genozide aller Zeiten kommen konnte, und schon haust du das nächste Experiment heraus. Spektakulär! Schläfst du zwischendurch auch einmal?“
Stanley Milgram hält das Streichholz an seinen Pfeifenkopf und saugt die Flamme ein bis der Tabak zu glimmen beginnt:
„Wie ein Stein, Tom. … So, so, du findest es also auch zweifelhaft, dass ich Menschen für mein Experiment in Gewissenskonflikte brachte?“
Tom O’Liary schüttelt den Kopf:
„Ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie weit man da gehen darf. Hoffen wir, dass deine Studie den Menschen die Augen über sich selbst öffnet. Wir sind nur knapp dem Dritten Weltkrieg entronnen. Nicht zu fassen, wo deine Theorie doch sagt, dass alle Menschen über wenige Ecken miteinander verbunden sind. Das müsste doch die beste Grundlage für Frieden sein. Über sechs Ecken – richtig? Dann ist unsere Welt viel kleiner als wir manchmal denken.“
„Offensichtlich. Und trotzdem vereinsamen die Menschen immer mehr. Zumindest hier in den Großstädten. Ist dir das auch schon aufgefallen? Heute Morgen habe ich von meinem Fenster aus beobachtet, wie ein alter Mann auf dem Gehsteig stürzte. Sehr viele Menschen sind an ihm vorbei gelaufen, obwohl er mitten in der Rush Hour am Boden lag. Es vergingen vierzehn Sekunden bis endlich einer anhielt und sich um ihn kümmerte. Ich habe leise mitgezählt. Einer, Tom. Nur ein Einziger. Und es ist bald Weihnachten. Kannst du dir das vorstellen?“
Tom O’Liary hält sich den Bauch vor Lachen:
„Entschuldige Stanley, dass ich jetzt lachen muss. Das ist wirklich sehr traurig. Aber offenbar kannst du nicht mal aus dem Fenster sehen, ohne gleich eine Sozialstudie daraus zu machen.“
„Also, ich finde das erschreckend und ich verspreche dir, das wird mein nächstes Forschungsfeld. Welchen psychologischen Zusammenhang vermutest du dahinter, Tom?“
„Keine Ahnung, Stanley. Ich weiß nur: Bei meinen Eltern auf dem Land wäre das anders. Ausnahmslos jeder, den ich dort kenne, wäre stehen geblieben, um dem armen Mann zu helfen. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Glaubst du, dass Stadtmenschen schlechter sind als Landmenschen? Das wäre eine gewagte These, Tom.“
„Aber nein, natürlich glaube ich das nicht. Du und ich, wir wohnen auch in der Stadt und sind keine Bösewichte. Wir kennen viele anständige Leute hier in Boston. Woran könnte es deiner Meinung nach liegen, dass die Hilfsbereitschaft in den Städten nachlässt? Ich bin sicher, du hast schon eine Hypothese.“
Stanley zieht an seiner schwarzen Pfeife und lässt den Rauch durch die Mundwinkel abziehen:
„Es könnte ein Schutz-Mechanismus sein. Möglicherweise ziehen sich die Menschen immer weiter in sich selbst zurück, weil sie hier in der Stadt unter einer Art Reizüberflutung leiden. Sieh dich gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit einmal um: Überall diese schrille Reklame und all die blinkenden Lichter in den Schaufenstern. In jedem Laden dudelt Weihnachtsmusik. Nachts muss man die Fenster schließen wegen des Lärms. Wo du hinsiehst gehetzte Menschen. Es gibt immer mehr und immer schnellere Autos. Vielleicht nehmen wir deshalb nicht mehr alles wahr, was um uns herum geschieht. Das wäre ja auch unmöglich. Wir müssen Teile ausblenden, um bei Verstand zu bleiben.“
Tom O’Liary nickt nachdenklich:
„Eine Art urbanes Overload-Syndrom, sozusagen. Eine spannende Hypothese. Lass uns das mal im Auge behalten. Der Studien-Aufbau ist sicher nicht komplizierter als der deines letzten Experiments. Erzähle mir bitte noch einmal genau, wie du es angestellt hast, auf die Zahl Sechs zu kommen.“
Der Kellner erscheint und nimmt die Bestellung auf.
„Für mich einen Scotch. On the rocks, bitte. Möchtest du auch einen, lieber Tom?“
„Sehr gerne. Aber ohne Eis, nur mit einem Tröpfchen Wasser, bitte.“
Mit einer knappen Verneigung zieht der Kellner wieder ab. Stanley lehnt sich in seinem Clubsessel zurück.
„Ja, dieses Experiment war in der Tat etwas aufwändiger. Wir hatten die Hypothese, dass jeder beliebige Mensch mit jedem beliebigen anderen Menschen auf der Welt über eine relativ kurze Kette von Bekanntschaften verbunden ist. Deshalb haben wir nach dem Zufallsprinzip sechzig Personen aus weit entfernten Städten wie Omaha und Wichita ausgewählt und ihnen die Aufgabe gestellt, ein Paket mit Informationen an eine von uns definierte Person hier in Boston zu senden. Der Absender kannte nur den Namen und den Ort des Empfängers. Er durfte das Paket nicht direkt an diese Person senden, selbst wenn er die Adresse herausgefunden hätte. Er musste es jemandem übergeben, der ihm persönlich bekannt ist. Kurzum: Er musste darüber nachdenken, bei wem die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass das Paket bei der Zielperson ankommt. Vielleicht wusste er, dass der Onkel eines alten Schulfreundes geschäftlich auf halbem Weg nach Boston zu tun hatte. Dann hat er das Paket möglicherweise dem Schulfreund übergeben, und der dann wieder seinem Onkel und der seinem Geschäftspartner und so weiter.“
Der Scotch steht inzwischen auf dem Tisch. Tom greift zu.
„Meine Güte, das klingt wirklich abenteuerlich.“
Stanley lacht:
„Aber drei Pakete erreichten ihr Ziel mit einer durchschnittlichen Pfadlänge von 5,5 – aufgerundet sechs – Verbindungspersonen. Wir haben es das #Kleine-Welt-Phänomen getauft.“
Tom nickt:
„#Six-Degrees-of-Separation wäre auch ein schöner Titel gewesen.“
„Stimmt. Aber wir bräuchten eine deutlich höhere Fallzahl, um diese Ziffer zu beweisen.“
(2) Holger-39-Wissenschaftsredakteur
(Hamburg, 2. August 2008)
Von Holger Dambeck
Samstag, 02.08.2008 17:48 Uhr
Quelle: spiegel.de (Auszug)
Erstaunlicherweise haben Studien in den vergangenen Jahren die Zahl von sechs bis sieben bestätigt, die Stanley Milgram 1967 bei seinem simplen Experiment entdeckt hatte. Handelt es sich um eine Art Naturkonstante?
Über sechs, sieben Ecken kennt jeder Mensch jeden – das Grundgesetz menschlicher Netzwerke? Den jüngsten und umfassendsten Beleg für diese These haben Jure Leskovec von der Carnegie Mellon University und Eric Horvitz von Microsoft Research geliefert. Die beiden hoben einen Datenschatz, wie ihn nur das weltumspannende Internet ermöglicht. Sie analysierten die Verbindungen von 240 Millionen Instant-Messenger-Accounts im Juni 2006. 30 Milliarden Einzelverbindungen umfassen die Protokolle, das nach Aussagen der Forscher größte je analysierte soziale Netzwerk.
Ergebnis: Durchschnittlich 6,6 Personen lang ist die Kette, die zwei Menschen verbindet. (…) 48 Prozent aller Empfänger können über sechs Stationen erreicht werden, über sieben Personen sind es 78 Prozent der Instant-Messenger-Nutzer. Horovitz zeigte sich vom Ergebnis der Studie „ziemlich schockiert“, wie er der Washington Post sagte. „Was wir herausgefunden haben, spricht dafür, dass es eine soziale Verbindungskonstante für Menschen gibt.“
(3) Statista, Januar 2019
Monatlich aktive Nutzer weltweit:
Facebook: 2.274 Millionen
YouTube: 1.900 Millionen
WhatsApp: 1.500 Millionen
Facebook Messenger: 1.300 Millionen
Weixin/WeChat: 1.903 Millionen
Instagram: 1.000 Millionen
Twitter: 326 Millionen
LinkedIn: 303 Millionen
Skype: 300 Millionen
Snapchat: 287 Millionen
Viber: 260 Millionen
Pinterest: 250 Millionen
(4) Brandwatch, Juli 2019
Weltbevölkerung: 7,7 Milliarden
Aktive Social-Media-Nutzer: 3,5 Milliarden