Petra-54-Rechtsanwältin
München, 16. Dezember 2016
Betreff: Lissmann ./. Tanner wegen Erbschaftsstreit
von: pwinkler@winkler-partner.de
an: helene.tanner@gmail.com
Anhang: Gutachten_16.12.2017_lissmann_tanner.pdf
Datum: 16.12.2016 15:14:03
Sehr geehrte Frau Tanner,
im Namen meines Mandanten Joachim Lissmann informiere ich Sie heute darüber, dass wir im Fall Gerda Lissmann anstreben, die Verschollene nach Ablauf der 3-Jahresfrist gerichtlich für tot erklären zu lassen. Bitte nehmen Sie weiterhin zur Kenntnis, dass davor keine Erbschaftsansprüche geltend gemacht werden können. Des Weiteren sind Änderungen an einem gemeinsam verfassten Testament, die nach dem Ableben des einen Ehegatten vom anderen vorgenommen werden, ohnedies nicht rechtswirksam. Alle Rechtsgrundlagen entnehmen Sie bitte dem beigefügten Gutachten.
Mit freundlichen Grüßen
RA Dr. Petra Winkler
Winkler & Partner, Rechtsanwälte in München
Petra Winkler überfliegt den Anhang, den ihre Sekretärin vor dem Urlaub noch fertiggestellt hat. Wie jedes Jahr würden sie die Kanzlei über Weihnachten und Silvester für zwei Wochen schließen. Denn Weihnachten war das Fest der Liebe. Da wollte sich keiner von ihnen mehr mit den Streitigkeiten anderer Familien herumschlagen. Sie taten es das ganze Jahr. Nur dieses eine Schreiben muss Petra noch auf den Weg bringen. Reine Formsache. Rechtlich hatte die Gegenpartei keinerlei Anspruch auf irgendwas. Und moralische Urteile zu fällen, zählte nicht zu Petras Aufgaben. Es würde noch viel Wasser die Isar hinab fließen, bevor sie die Verschollene zu den Akten legen konnte.
„Wer weiß: Vielleicht taucht die Gute ja doch noch auf.“
Tot wäre die Regel, lebendig das erste Mal in Petras Berufsleben als Anwältin für Familien- und Erbrecht.
Seit sieben Jahren arbeitete Petra in der Kanzlei ihres Vaters. In den ersten fünf Jahren hatte sie ihn noch an ihrer Seite gehabt. Dann war er völlig unerwartet gestorben und sie hatte weitergemacht. Zwei harte Jahre lagen nun schon hinter ihr, in denen sie sich ohne seinen Rat hatte durchschlagen müssen – beruflich wie privat. Inzwischen teilt sie sich die Verantwortung, eine renommierte Anwaltskanzlei in München zu führen, mit ihrem neuen Partner Dr. Arndt Huber. Sie verstehen sich gut und mit dem Geld, das Arndt für seine Teilhabe einbringen musste, konnte Petra eine hübsche Wohnimmobilie finanzieren.
Arndt steckt gerade den Kopf zur Tür herein:
„Ich bin dann auch weg. Und was ist mit dir?“
„Noch eine E-Mail, dann mache ich alle Lichter aus. … Was macht ihr über die Feiertage?“
Arndt grinst zufrieden:
„Die Kinder sind mit Senta und ihren Eltern beim Skilaufen. Und wir gönnen uns zwei Wochen Golf in Südafrika. Mittwoch geht’s los. Ich freu mich schon narrisch.“
Petra nickt anerkennend:
„Heiligabend bei 25 Grad Außentemperatur am Kamin im Clubhaus. Très chic!“
„Es gibt Schlimmeres. … Und du?“
„Ich habe Doris und Elke für Heiligabend eingeladen.“
Arndt reißt die Augen auf:
„Was ist los? Soll ich lieber hier bleiben, falls ich dich aus dem Knast holen muss?“
Doch Petra winkt ab:
„Nein, nein. Pack du mal deinen Golfsack und mach dir ein paar schöne Tage. Grüß Britta lieb von mir. Sie soll dich auch mal gewinnen lassen.“
Arndt ist seit zwei Jahren mit Britta Liebknecht liiert. Sie lernten sich über eine Dating-Plattform kennen, kurz nachdem ihn seine Frau vor die Tür gesetzt hatte: weil er in der Woche zu viel arbeiten und am Wochenende nur noch auf dem Golfplatz herumspringen würde. Zu wenig Zeit für Frau und Familie. So unbeachtet hatte Jessica Huber sich einen anderen Mann angelacht, wie sich später herausstellte.
In den Wochen nach der Trennung war Arndt unausstehlich gewesen. Schließlich hatte Petra ihn bei einer Partnerbörse angemeldet und als Suchkriterium #Golf eingegeben. Patten konnte er, aber am Computer hatte Arndt zwei linke Hände. Abends sichteten sie gemeinsam die Profile und Petra sprach Empfehlungen aus.
Da Petra ihren Kollegen bei der Scheidung vertreten hatte, wussten anschließend beide genau, wie der andere tickte. Petra war die Pedantische und Arndt der Kreative. Sie ergänzten sich prima. Nur von Golf verstand Petra leider nichts.
„Das heißt Golftasche, nicht Golfsack. Und Britta ist im Moment nicht richtig bei der Sache. Sie nimmt kaum noch an Turnieren teil. Lieber schlägt sie ein Paar Bälle mit Freuden. Das fordert mich nicht genug.“
„Schade. Wie kommt’s?“
Arndt sieht resigniert aus:
„Ich glaube, ihr Gehirn wird gerade von Hormonen überschwemmt. Alles dreht sich nur noch um Babys. In ihrem Bekanntenkreis werden sie der Reihe nach schwanger. Da scheint ein Virus umzugehen und ich fürchte, Britta würde sich gern ein bisschen anstecken.“
„Nein, wirklich? …“, denkt Petra, während sie das Gutachten querliest.
„Dann hättest du dir besser was in deinem Alterssegment gesucht. Jüngere Partner bringen nicht nur Vorteile mit sich. Das hätte ich dir gleich sagen können.“
Doch sie sagt:
„Du meinst, Britta möchte Kinder, du aber nicht?“
„Ich hab ja welche.“
Petra nickt verständnisvoll:
„Da hast du natürlich recht. Das sollte Britta eigentlich genügen.“
Arndt Huber reibt sich die linke Schuhspitze an seinem rechten Hosenbein blank. Das tat er oft, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlte. Deshalb wechselt er das Thema:
„Und was habt ihr vor, außer euch den Heiligabend zu versauen?“
Petra lacht:
„Keine Ahnung. Ich sehe Paul zu selten, um Pläne mit ihm zu machen. Wir drücken uns nur noch die Klinke in die Hand.“
„Wie traurig. Ihr wart immer so ein gutes Team.“
„Das stimmt“, erwidert Petra wehmütig.
***
Ohne Paul wäre es mit der Kanzlei nicht so reibungslos gelaufen. Paul, der Mann, den sie auf der Hochzeit einer Freundin kennengelernt hatte. Nicht, weil er wie sie als Gast geladen war. Den besten Pisco Sour ihres Lebens hatte er für sie gemixt. Natürlich war es im Verlauf des Abends nicht bei dem Einen geblieben.
Im Traum wäre ihr damals nicht eingefallen, dass der gut gebaute Beach Boy mit dem bronzefarbenen Teint und den sonnengebleichten Haaren ihr einen Bierdeckel mit seiner Handynummer unter den Cocktail schieben würde. Immerhin hatte sie ihm einiges an Jahren und sicher auch Bildung voraus. Petra hatte das Stück Pappe schnell eingesteckt, bevor es einer merkte. Dabei scherte sich kein Mensch mehr um sie, die bereits die halbe Nacht an Pauls Tresen verbracht hatte. Paul hatte alles, was sie in ihrer trostlosen Lage brauchte: einen lakonischen Humor und ausreichend Alkohol.
Um ehrlich zu sein, hatte es zu Paul und dem Tresen keine Alternative gegeben. Von zwei älteren Witwen abgesehen, war Petra die einzige Single-Frau unter all den Paaren gewesen, die entweder turtelten oder ihre umher springende Brut beaufsichtigten und gelangweilte Teenager maßregelten.
In eindeutiger Absicht hatte man Petra neben einen hageren Cousin des Bräutigams gesetzt: zwei Übriggebliebene, mit denen man nicht wusste, wohin. Der Cousin brachte die Zähne nur auseinander, um die nächste Gabel hindurch zu schieben. Nach dem Dessert wusste Petra immerhin, dass er Steffen hieß und Wirtschaftsingenieur war.
Trotz allem konnte Petra später nicht mehr nachvollziehen, was sie geritten hatte, dem Barkeeper ihre Zimmernummer auf sein Handy zu schicken. Noch weniger konnte sie sich erklären, weshalb der Beach Boy eine knappe Stunde später tatsächlich an ihre Tür geklopft hatte. Sie wusste nicht mal, wie sie selbst ins richtige Zimmer gelangt und im Bett gelandet war. Da stand sie nun in der offenen Tür: das Make-up schief im Gesicht und die teure Hochsteck-Frisur ramponiert.
Wenigstens hatte sie das schwarze Seidenkleid vor dem Zubettgehen ausgezogen, für das sie viel Geld hingeblättert hatte, weil ein Mann ihr anerkennend zunickte, als sie sich vor dem Umkleide-Spiegel drehte.
„Nehmen’s des bloß”, hatte er verschwörerisch geraunzt, als seine Frau aus der Nachbar-Kabine trat und Petra einen giftigen Blick zuwarf. Dabei hatte sie gar nichts getan!
Nein, Petra trug nichts, als einen schwarzen Slip, was ihr in diesem Moment der Überraschung nicht einmal peinlich war und von Paul mit einem breiten Grinsen quittiert wurde. Ihre Zunge schmeckte nach Knoblauch, Zigarre und Pisco Sour.
Paul schien das alles nicht zu stören: Petras verrutschtes Make-up, die ramponierte Frisur, der Geschmack von Knoblauch, Zigarre und Pisco Sour, den er mit verursacht hatte. Er fragte auch nicht, ob er eintreten dürfe. Zielstrebig war er einfach auf sie zugegangen und hatte sie so heiß geküsst, wie noch kein Mann vor ihm. Niemand hatte das bisher gewagt. Eigentlich bestimmte Petra immer, wo es lang ging. Obwohl er ein bisschen zu jung dafür schien, wusste Paul genau, was er tat. Das konnte Petra von sich selbst nicht behaupten.
Als sie am nächsten Tag mit schwerem Kopf neben Paul erwachte, fühlte sie sich nackt. Natürlich war sie das auch, doch das Gefühl hatte mit der Tatsache wenig zu tun. Ihr Kontrollverlust hatte sie entblößt, verletzlich und damit angreifbar gemacht. Fieberhaft überlegte Petra, wie sie den jungen Barkeeper vor dem Frühstück wieder loswerden würde, ohne allzu unhöflich zu erscheinen. Ob er wohl Geld von ihr erwartete? Sie beobachtete Paul von der Seite. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht in seine offene Hand gebettet wie in ein warmes Nest. Über seine rechte Schulter zog sich eine lange Narbe, die von einer Operation herrühren musste. Trotzdem wirkte er vollkommen intakt – rund und zufrieden mit sich und der Welt. Der Anblick ging ihr ans Herz und sie schämte sich, weil alles an dieser Situation ganz grässlich nach Klischee roch.
Als sie aufstehen und ins Bad flüchten wollte, schlug Paul die Augen auf. Die Morgensonne spiegelte sich in seinen müden Pupillen. Schnell zog Petra die Decke bis zum Hals hinauf, was Paul wenig beeindruckte. Seine Hand arbeitete sich schon wieder zu ihren Schenkeln vor. Dann folgte der Rest seines warmen Körpers. Wieder wusste Paul genau, was er tat, und er tat es erschreckend gut. Widerstand war zwecklos.
Danach übernahm Petra die Führung. Von den Verabredungen über die gemeinsame Wohnung bis hin zu den Finanzen entschied Petra alles und Paul trug es mit Fassung. Selbst beim Ehevertrag, auf den Petras Vater Uli pochte, legte Paul kein Veto ein. Nach zehn Monaten Paul war Petra nämlich schwanger.
Obwohl sich Uli Winkler über die Wahl seiner Tochter sehr wunderte, erkannte er die Vorteile dieser Verbindung. Ein mittelloser Ehemann würde Petra nicht davon abhalten, in Ulis große Fußstapfen zu treten. Und da Paul weder misstrauisch noch ehrgeizig war, unterschrieb er das Kleingedruckte, das ihre Beziehung auch im Falle einer Trennung regeln sollte, ohne mit der Wimper zu zucken. Bis heute wusste Paul nicht, was ihm die Rechtsanwälte Winkler da alles aufgetischt hatten. Aber er war sich ganz sicher: Zu gegebener Zeit würden sie es ihm in allen Einzelheiten erklären.
Vor Paul hatte es nur #Geschichten in Petras Leben gegeben, weil sie zu Beginn einer Liaison bereits wusste, dass sie bald Geschichte sein würde. Ihr Vater war der wichtigste Mann in ihrem Leben und so sollte es auch bleiben. Nur auf ihn war Verlass. In der Regel suchte sich Petra deutlich ältere Liebhaber. Paul war zwölf Jahre jünger als sie, was Uli Winkler kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm.
Oft nannte er seinen Schwiegersohn #Sunnyboy, weil Paul nach der Schule nichts Schlaueres eingefallen war, als surfen und Cocktails mixen zu lernen. Dafür hatte Paul in seinem Leben schon mehr weißen Sand zwischen den Zehen gespürt, als die gesamte Winkler-Familie zusammen. Diese bestand neben Petra und Uli Winkler aus Petras Halbschwester Elke, deren Mutter Doris, dem Airedale Terrier Lazarus und Gretel, der Schildkröte, die Lazarus gern im Maul spazieren trug. Manchmal, wenn niemand hinsah, ließ er Gretel vom Sofa aus in eine leere Bodenvase fallen, wo ihr Panzer mit lautem K-L-O-C-K am Grund aufschlug. Beim ersten Mal dauerte es zwei Tage, bis sie die erschöpfte Gretel dort wiederfanden. Mit ihren Krallen hatte sie so lange am Porzellan geschabte bis Uli das Geräusch beim Fernsehen störte und er seinem Ursprung nachging. Keiner konnte sich erklären, wie sich Gretel in diese missliche Lage gebracht hatte.
Ganz ähnlich verhielt es sich mit Ulis Vorzeige-Tochter, die bis zu Paul sehr kontrolliert und berechenbar gewesen war. Klar musste da Unverständnis aufkommen: Während Paul planlos durch die Welt gezogen war, hatten Uli und Petra stets gewusst, wo ihr Platz war. Und Paul wusste das jetzt hoffentlich auch.
Als Juristin legte Petra viel Wert auf Gerechtigkeit und Genauigkeit. Sprach jemand über ihrer Schwester Elke, unterbrach sie ihn mit:
„Halbschwester.“
Erkundigte sich jemand nach ihrer Mutter Doris, korrigierte sie ihn:
„Stiefmutter.“
Die Ungerechtigkeit, dass Elke einen Vater und eine Mutter, sie selbst hingegen nur einen Vater und eine Stiefmutter hatte, war Petra als Kind ein Dorn im Auge gewesen. Zum Ausgleich hatte sie beschlossen, dass ihr ein größeres Stück vom Vater zustehen sollte. Wie alle Männer beugte sich auch Uli ihren Entscheidungen. Deshalb hielt Elke bei Streitereien zu Doris und umgekehrt. Elke und Doris waren das Pech und Schwefel in Petras Leben.
Petra entschied auch, dass Paul seine unseriösen Jobs aufgeben und sich ganz den Kindern widmen sollte. So hatte sie den Rücken frei für die Kanzlei. Drei Wochen blieb Petra nach den Geburten zuhause. Beim ersten Kind brachte Paul ihr das Baby zum Stillen noch ins Büro. Beim zweiten Kind legte Paul ihr morgens und abends die Milchpumpe an und fütterte Pulver zu, wenn die Ausbeute nicht reichte. So konnte Petra nachts durchschlafen und fit vor Gericht erscheinen. Nach den beiden Kindern wurde das Melkgerät auf Ebay vertickert. Petra hatte entschieden, dass zwei Kinder reichen.
Die Kinder kamen im Abstand von sechzehn Monaten zur Welt. Petra hatte das für eine pragmatische Lösung gehalten, um die Sache schnell vom Tisch zu haben. Im Zimmer der Kinder lag eine Matratze für Paul auf dem Boden, falls er nachts nach ihnen sehen musste. Oft fand Petra ihn morgens darauf schlafend, eine Hand durch die Gitterstäbe eines der Kinderbettchens geschoben. Dann schloss sie die Zimmertür leise, um sich den Kaffee im Büro kochen zu lassen.
Die beiden Mädchen gediehen prächtig in den sorglosen Händen ihres jungen Vaters. Ann-Katrin war jetzt vierzehn und Marie-Lisa zwölf. Petra schied kaputte Ehen, klagte Unterhaltszahlungen ein und erstritt Aufenthaltsrechte. Am Ende waren die Scheidungskinder immer die Leidtragenden. Niemals, schwor sie Paul, sollte ihren eigenen Kindern etwas derart Gemeines widerfahren. Entgegen vieler Unkenrufe gab es keinen Anlass, ernsthaft über eine Trennung nachzudenken. Paul machte seinen Job gut und Petra bezahlte ihn anständig dafür.
In den ersten sechs Jahren überwies Petra ihm einen Obulus in der Größenordnung eines Erziehergehalts. Von diesem Geld musste Paul die Hälfte des Haushaltsgelds bestreiten. Da Paul inklusive Trinkgeld vorher mehr verdient hatte, übernahm Petra seine Versicherungen. Als Ann-Katrin in die Schule kam, stockte Petra den Betrag auf das Gehalt eines Grundschullehrers auf.
Später verwies sie ihren Mann auf die Winkler’sche Ehe-Charta. Diese sah vor, dass Paul sich ab dem 10. Lebensjahr des jüngsten Kindes am Lebensunterhalt zu beteiligen hatte. Er solle sich daher bald Gedanken über seine beruflichen Perspektiven machen. Gern würde sie ihn finanziell unterstützen, falls er ein Studium beginnen wolle, was sie für einen klugen Schachzug halten würde, solange beide Mädchen noch zur Schule gingen. Nach dem Studium könne er das Darlehen in kleinen Raten bei ihr abstottern. Auf keinen Fall solle er darauf hoffen, dass Petra ihn – wenn beide Mädchen das Gymnasium besuchten – wie einen Oberstudienrat besolde.
Doch Paul hatte mit vierzig ebenso wenig Lust zu studieren wie mit zwanzig. Weil er mit den Kindern viel Zeit in der Natur verbrachte, war er immer noch gut gebaut. Sein Teint war immer noch bronzefarben und sein Haar immer noch sonnengebleicht. So fand er schnell eine neue Stelle als Barkeeper in einem Münchner Nobelhotel, das auch Anwälte aufsuchten, um sich mit Kollegen oder Mandanten zu treffen. Nicht selten steckte ihm eine Frau ihre Zimmernummer zu, doch er kam der Einladung nie mehr nach. Seine Arbeitszeiten waren geregelt und erlaubten es ihm, die Kinder abends in Petras Obhut zu übergeben. Uli Winkler griff sich atemlos an die Brust, als er seinen Schwiegersohn mit einem Shaker hinter dem Tresen erwischte, und seine Tochter verzweifelte daran. Familie Winkler, in der jeder wusste, wo sein Platz war, stand plötzlich Kopf, nur weil Paul wieder auf eigenen Füßen stand. Was sollte man da machen? In guten wie in schlechten Zeiten. Und jetzt waren eben mal die Schlechten dran.
Heute lebten Petra, Paul und die Kinder in einer geräumigen Wohnung in Neuhausen-Nymphenburg. Paul zahlte die Nebenkosten und erledigte weiterhin die Einkäufe. Niemand war über Angebote so gut informiert wie er. Alle anderen Ausgaben teilten sich Petra und Paul. Jeden Sommer spendierte Petra einen zweiwöchigen Strandurlaub, in dem Paul seinen Mädchen das Surfen beibrachte. Er sorgte auch dafür, dass die Kosten im Rahmen blieben. Schließlich hatte er viel Erfahrung als Überlebenskünstler an weißen Sandstränden. In diesen beiden Wochen gelang es Paul, Petra ein bisschen an seiner Art Lebensfreude teilhaben zu lassen. Zuhause wehrte sie sich dagegen.
***
Arndt Huber löst sich schwerfällig vom Türrahmen:
„Also dann, Petra, erhol dich trotz Familie, wenn es geht. Du hast es auch nötig.“
„Was soll das denn heißen?“, fragt Petra beleidigt.
„Komm schon! Doris und Elke. Ich kann es immer noch nicht fassen. Da musst du einen ziemlich schwachen Moment gehabt haben.“
Arndt schüttelt den Kopf und hebt die Hand zum Abschied. Dann ist er verschwunden.
Es ist kurz vor halb fünf als Petra die E-Mail abschickt. Sie fährt den Rechner herunter und verstaut den Laptop in der Tasche, was sie selten tut. Normalerweise lässt sie die Arbeit im Büro.
„Vielleicht kommt zwischen den Jahren etwas Dringendes rein.“
Ihr graut es vor den anstehenden Feiertagen: Doris und Elke an Heiligabend, der schwelende Konflikt mit Paul und beide Töchter in der Pubertät. Danach würde sie sich im Büro von allem erholen müssen und nicht umgekehrt. Gegen diese Aussichten erschien ihr die Arbeit wie ein Ruhepol und ein Ledersessel im Clubhaus als überlegenswert.
„Vielleicht sollte ich doch mit dem Golfspielen anfangen. Arndt meint ohnehin, Golf sei das neue Tennis: eine gute Methode, um lukrative Mandate an Land zu ziehen.“
Ihr Handy klingelt. Im Display erscheint ein Foto von Paul mit den beiden Mädchen. Sie hat es im letzten Urlaub geschossen. Pauls Augen strahlen sie an und ein Gefühl von Sehnsucht übermannt sie. Doch es hält nicht lange an:
☎ „Hallo Paul, wo treibst du dich rum?“
Am Rattern und den wirren Stimmen im Hintergrund erkennt sie, dass Paul in der U-Bahn sitzt.
☎ „Ich bin auf dem Weg zum Gärtnerplatz. Wir hatten doch vereinbart, dass wir heute das Weihnachtsgeschenk für Mariele kaufen. Schon vergessen? Sollen wir uns vorher im Castillo treffen, um deinen Urlaub einzuläuten?“
Petra mag es nicht, wenn Paul die Namen ihrer Kinder verunstaltet. Doch sie schluckt ihren Groll hinunter, um kurz vor den Ferien keinen Streit heraufzubeschwören.
☎ „Ja, gern. Ich kann um fünf da sein. Bestellst du mir schon mal einen Cappuccino? Und ein Zitronentörtchen, bitte. Du weißt schon, so eins mit Baiser oben drauf.“
☎ „Wenn ich einen Tisch bekomme … Sonst warte ich an der Theke auf dich. Dir geben sie ja immer einen Tisch.“
Petra hatte dem Besitzer in einer Unterhaltssache aus der Patsche geholfen. Davon profitierten sie heute noch.
☎ „O.k., Paul. Ich rufe an und sage, dass du unterwegs bist.“
☎ „Danke, Schatz.“
☎ „Dann bis gleich.“
Schnell wirft Petra noch ein paar Akten in die Tasche. Den Anruf im Castillo kann sie auch vom Auto aus erledigen.
„Paul soll sich ruhig mal alleine durchschlagen.“
Punkt fünf Uhr sucht sie immer noch nach einem Parkplatz.
„Es wäre einfacher gewesen, das Auto in der Tiefgarage zu lassen und auch mit der U-Bahn zu fahren.“
Sie schaltet die Freisprechanlage ein:
„Wähle #C-a-s-t-i-l-l-o.“
Die Computer-Stimme antwortet:
„Meinten Sie #il-C-a-s-t-i-l-l-o-?“
„Meinetwegen auch IL …“, wettert Petra vor sich hin.
„Wie bitte, ich habe Sie nicht verstanden.“
„Ja! … Herrgott.“
Der Bord-Computer baut die Verbindung auf. Sie muss es einige Male klingeln lassen, bis jemand abnimmt. Bestimmt war es wieder voll um diese Uhrzeit.
☎ „Das Castillo … Guten Abend Frau Winkler!“
„Sagen Sie das mal meinem Navi …“, lacht Petra.
Offenbar leuchtete Petras Name im Telefon-Display auf. Der Wirt schien VIP-Nummern ungefragt zu speichern. Es dämmert. Die triste graue Stunde vor der Nacht. Über München hängt seit Tagen ein zäher Nebel. Von Schnee keine Spur. Laut Wetterbericht würde es bis Weihnachten so bleiben. Einfach trostlos.
☎ „Ja, schönen guten Abend. Mein Mann müsste inzwischen bei ihnen eingetroffen sein. Wir sind um fünf Uhr verabredet gewesen, aber ich werde mich etwas verspäten. Ich suche noch nach einem Parkplatz. Wissen Sie, ob mein Mann einen Tisch bekommen hat?“
Die lauten Hintergrund-Geräusche bestätigen ihr, dass im Castillo Hochbetrieb herrscht.
☎ „Es is grad sehr voll bei uns, Frau Winkler. Ich hab Ihr’n Mann noch ned g’segn. Bleim’s kurz dran, i schau nach.“
Alle kannten Paul. Wenn sie dort waren, schwirrte das weibliche Personal wie ein benebelter Bienenstock um ihn herum. Dagegen kam sich Petra wie eine träge Hummel vor. Nach zwei Minuten meldet sich die Stimme zurück:
☎ „Ihr Mann sitzt jetzt da herinnen am Stammtisch.“
☎ „Perfekt. Ich danke Ihnen und bin auch gleich da.“
☎ „Gern g’schehn. Dann bis glei, Frau Winkler.“
Zehn Minuten später zwängt sich Petra an den wartenden Leuten im Eingangsbereich des Castillo vorbei. Sie kämpft sich zum Stammtisch vor, wo Paul noch im grauen Mantel sitzt. Wieder einmal fällt Petra auf, wie attraktiv ihr Mann ist. Paul tippt auf seinem Handy herum.
„Wahrscheinlich informierte er die Kinder, dass wir später kommen …“, denkt Petra. Als Paul aufsieht, steht sie bereits vor ihm am Tisch.
„Tut mir leid, Paul. Ich habe keinen Parkplatz gefunden.“
„Kein Problem. Wann hast du angerufen? Ich musste eine ganze Weile an der Tür warten, bis jemand den kleinen Paul abgeholt hat.“
Petra ignoriert die Frage, während Paul ihr aus dem Mantel hilft. Er bringt ihre Mäntel vor zur Garderobe, wo es keine freien Haken mehr gibt. Sein Handy liegt auf dem Tisch. Als das Display aufleuchtet, hängt der weiße Streifen einer eingegangenen WhatsApp-Nachricht am oberen Rand:
>> sehen wir uns vor weihnachten noch im …
Der Streifen bleibt nicht lange genug stehen, um das kleine Profilbild des Absenders erkennen zu können. Nur der Name springt Petra ins Auge: #Sylvie. Sie wird kreidebleich.
„Was habe ich anderes erwartet? Ich werde immer älter und Paul wird immer interessanter. Das ist schrecklich ungerecht! …“
„Alles in Ordnung?“
Paul wirkt besorgt als er an den Tisch zurückkehrt.
„Ja, warum?“
„Du bist so blass. Als du vorhin gekommen bist, hast du noch besser ausgesehen. Die Luft ist aber auch wieder stickig hier drin. Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“
Petra nickt stumm. Während Paul sich wieder Richtung Theke vorkämpft, behält sie sein Handy im Blick. Doch es bleibt schwarz.
„Meine liebe Frau Winkler! Wie schön, dass Sie uns beehren.“
Horst Mosacker, Chef des Castillo, beugt sich über Petras Hand und deutet einen Kuss an. Sie findet sein Mafia-Gehabe widerlich und hat jetzt keinen Kopf für Smalltalk. Zum Glück kehrt Paul gerade mit dem Glas Wasser zurück. Horst Mosacker sieht ihn missbilligend an und winkt sofort eine der gestressten Kellnerinnen herbei:
„Beppa, kümmere dich bitte um Herrn und Frau Winkler. Hier muss sich niemand selbst bedienen.“
Er lächelt die beiden schmierig an:
„Es ist leider wieder viel los heute.“
Nach diesen Worten stürzt er vor zum Eingang, wo etwas Rummel um einen Fußballspieler des FC Bayern entstanden ist. In der Hoffnung, Beppa möge es nicht hören, zischt Paul:
„Können wir nicht mal was anderes ausprobieren? Ich finde, es wird immer schlimmer hier. Eigentlich kommen wir nur noch wegen deiner Zitronentörtchen her.“
Die Kellnerin kratzt mit dem elektronischen Stift auf dem Display ihres Mini-Tablets herum:
„Zitronentörtchen, also. Zwoa?“
Paul schiebt sein Handy in die Hosentasche.
„Für mich nicht, danke.“
Beppa gibt die Bestellung ein:
„Also, nur oans.“
Petra winkt ebenfalls ab:
„Nein, danke. Ich möchte auch kein Zitronentörtchen.“
Immer noch freundlich löscht Beppa den gesamten Posten.
„Was derf i denn sonst bringa?“
Paul sieht Petra verwundert an:
„Wieso willst du plötzlich kein Zitronentörtchen mehr?“
„Weil mir die Lust darauf vergangen ist.“
Beppa sieht sich im vollen Lokal um. Ihre Kolleginnen flitzen hektisch hin und her. Sie wirkt genervt. Paul will sie nicht länger aufhalten:
„Für mich eine Maß, bitte. Meine Frau überlegt noch ein bisschen.“
Als Beppa abzieht, kommentiert Petra mit hochgezogener Braue:
„Eine Maß? – Um diese Uhrzeit? – Wie ungewöhnlich für dich.“
„Heute muss ich ja nicht mehr arbeiten. Und jetzt habe ich eben Lust auf ein schönes kühles Bier.“
Petra macht eine abwehrende Geste:
„Schon gut! Man wird wohl noch fragen dürfen.“
Das Bier erscheint schneller als erwartet. Petra winkt ab, als Beppa sie fragend ansieht:
„Danke, ich bin mit meinem Wasser sehr zufrieden.“
Paul sieht sie von der Seite an und wartet, bis Beppa gegangen ist.
„Sagst du mir jetzt endlich, was los ist?“
Doch Petra schweigt beharrlich.
„Soll ich raten oder was?“
Sie sieht ihn giftig an:
„Ich frage mich gerade, warum SYLVIE dich vor Weihnachten noch mal treffen muss?“
Petra spricht den Namen betont nasal aus. Paul versteht nicht, was sie meint, deshalb fügt Petra hinzu:
„Dann schau halt mal in WhatsApp nach.“
Neugierig zieht Paul sein Smartphone aus der Hosentasche.
„Stimmt. Da ist eine Nachricht von Sylvie. Woher wusstest du das?“
„Klingt wirklich hübsch. Ist sie das auch?“
„Was soll das, Petra? Sylvie ist meine Kollegin. Die sind alle hübsch. So ist das nun mal in diesem Business.“
„Tsss … Business …“, schnaubt Petra.
Pauls Blick verfinstert sich:
„Ja, mein Engel, Barkeeper ist auch ein Beruf. Sonst hätten wir uns gar nicht kennengelernt. Erinnerst du dich?“
„Wie könnte ich das je vergessen?“
Petra dachte nicht gern an den Abend des Hochzeitsfests zurück, bei dem ihr die Kontrolle so gänzlich entglitten war. Wenn sie erzählen sollte, wie sie Paul kennengelernt hatte, sagte sie nur:
„Bei einer Hochzeit an der Bar.“
Das fanden alle romantisch und keiner fragte weiter nach.
Paul atmet tief durch und öffnet die Nachricht von Sylvie mit dem süßen französischen Akzent. Er liest sie und reicht sein Handy dann an Petra weiter:
>> sehen wir uns vor weihnachten noch im dienst? gunter will, dass wir die erste januar wochen planen. sinon: bon noel, mon cher, pour toi et ta famille. gros bisou, sylvie
„Sie ist wirklich hübsch“, bemerkt Petra, und gibt Paul das Handy zurück. Er rechnet nicht mit einer Entschuldigung.
„Ja, sie schlägt alle Trinkgeld-Rekorde. Ich möchte nicht wissen, wovon die Männer so träumen, wenn sie bei uns im Hotel sind?“
Paul schiebt sein Handy in die Hosentasche zurück. Dann trinkt er den Bierkrug leer.
„Willst du noch was oder können wir gehen?“
Er deutet mit dem Kopf Richtung Ausgang. Petra nickt. Sie zahlen an der Theke, wo Paul die Mäntel entgegennimmt, die Beppa eilig anschleppt. Dafür bedankt er sich mit einem üppigen Trinkgeld, was Petra für übertrieben hält:
„Und wovon träumst du so?“
„Verrate ich nicht. Gehen wir jetzt endlich ein Handy kaufen?“
Die Mäntel ziehen sie erst draußen auf der Straße an, weil es drinnen zu voll ist.
„Wo gehen wir eigentlich hin, Paul?“
Petras Mandelkern tobt immer noch leise vor sich hin. Paul kennt das: Manchmal dauerte es dreißig Minuten, bis sich diese Hirnregion bei ihr beruhigt hatte.
„In die Fraunhoferstraße. Da gibt es einen Shop, wo sie gute recycelte Handys verkaufen. Für eine Zwölfjährige muss das genügen.“
Petra merkt an seiner Stimme, dass er schmollt.
„Wenn die wirklich sauber sind, ist das o.k.. Und woher wissen wir das?“
„Hat mir Bernhard erzählt. Dann bekommt sie eine Prepaid-Karte dazu und aus die Maus. Ich finde das sowieso viel zu früh. Kati hat ihr iPhone erst mit vierzehn bekommen. Die wird eh wieder kotzen, dass Mariele bevorzugt von uns behandelt wird.“
„Was für ein Quatsch!“, erwidert Petra.
Doch Paul lacht sarkastisch:
„Ich kann sie schon verstehen.“
Petra beschließt, nichts mehr dazu zu sagen. Sie kennt diese ewige Debatte. Dabei konnte sich keines der Kinder beschweren. Die Zeiten änderten sich einfach schneller. Heute sah man, dass es Vorteile hatte, den Kindern eine mobile Notfall-Station in die Tasche zu stecken. Es konnte immer etwas passieren, wo ein Handy gute Dienste tat. Dass die Kinder auch damit spielten und experimentierten, war nun mal unvermeidlich. Na und? Je intuitiver sie mit diesen Technologien umgingen, desto besser für ihre berufliche Zukunft, sagte sich Petra. So, wie andere zweisprachig aufwuchsen, bewegte sich die neue Generation ganz selbstverständlich in Parallel-Welten: der analogen und der digitalen. Die Erwachsenen machten viel zu viel Wirbel darum. Das war Fortschritt. Das konnte man nicht aufhalten.
„Und an welche Marke hast du gedacht, Paul?“
„Egal. Hauptsache kein iPhone.“
Petra hütet sich, zu widersprechen.
Sie entscheiden sich für ein Samsung in metallic-pink. Es hat dieselbe Größe wie das iPhone von Ann-Katrin. Dann schlendern sie zu Petras Wagen zurück. Petras Gewissen meldet sich plötzlich:
„Warte mal, Paul.“
„Was ist den jetzt schon wieder?“
„Es tut mir leid. Ich meine das mit der WhatsApp-Nachricht vorhin. Ich hätte da nicht hinsehen dürfen. Es ist ja deine Privatsphäre.“
„Ach, das. Von mir aus kannst du da ruhig hinsehen. Ich habe nichts zu verbergen. Aber du scheinst das zu denken. Und das finde ich scheiße. Gebe ich dir etwa Anlass dazu?“
Petra nimmt seine Hand:
„Nein, natürlich nicht. Ich bin nur so urlaubsreif.“
Paul bleibt stehen und mustert sie besorgt.
„Dann machen wir uns jetzt zwei ruhige Wochen, o.k.?“
Er küsst sie zärtlich und Petra wird wachsweich in seinen Armen. Doch auch dieses Gefühl zieht schnell vorbei.
Zuhause sitzen ihre Mädchen vorm Fernseher und schauen #GZSZ.
„Na endlich“, stöhnt Ann-Katrin laut.
„Was gibt’s zu essen?“, legt Marie-Lisa gleich nach.
Während Paul seinen Mantel an die Garderobe hängt, geht Petra zu ihren Töchtern, um ihnen einen Kuss zu geben. Anne-Katrin weicht ihr aus, was sie in letzter Zeit häufig tut. Petra weiß, dass es die Pubertät ist. Trotzdem macht es sie traurig.
„Wer war wieder bei Douglas und hat Parfums getestet?“, fragt Paul in die Runde. „Das ist ja ein grässliches Potpourrie!“
„Sie werden viel zu schnell erwachsen …“, denkt Petra traurig.
„Wie wär’s denn heute mit Sushi, ihr Süßen?“
„Oh ja!! …“, jubeln die Mädchen im Chor.
„Oh nein …“, quengelt Paul.
„Dann muss ich wieder raus in die Kälte, um es abzuholen.“
Die Mädchen stürzen sich auf ihren Vater und ziehen ihn zu sich auf die Couch, was Petra einen Stich versetzt.
„Du bist halt der allercoolste Papa auf der Welt! …“, zirzen sie um die Wette, während Paul sie zärtlich in den Schwitzkasten nimmt.
Petra sucht in der Anrichte nach dem Flyer des Sushi-Ladens: Edel-Fastfood in einem Münchner Nobel-Wohnbezirk. Sie bestellt zwei große gemischte Platten.
„Lasst euch nicht stören, ich gehe schon.“
Drei ungläubige Gesichter erscheinen über der Rückenlehne des Sofas. Petra versetzt es einen Stich:
„Bin ich wirklich so eine Diva, wie hier alle zu denken scheinen? Dann wird es Zeit, etwas für mein Image zu tun.“
„Was machen wir eigentlich an Weihnachten?“, fragt Marie-Lisa beim Abendessen zwischen Thunfisch-Maki und Lachs-Nigiri.
„Doris und Tante Elke kommen“, antwortet Petra und angelt sich mit den Stäbchen ein Tamago-Nigiri von der Platte. Sie tunkt das Nigiri in die Sojasoße und balanciert es sicher zum Mund. Petra bringt es nicht über sich, Doris mit #Oma zu titulieren, obwohl ihre Kinder #Oma zu Doris sagen. Darauf hatte Petras Stiefmutter immer Wert gelegt.
„Schdimmt ja“, nuschelt Marie-Lisa mit vollem Mund.
„Und wasch gibd’sch zschu eschen?“
***
Bei Marie-Lisa mussten sie aufpassen. Sie war nicht groß und hatte die Tendenz, etwas Speck anzusetzen. Sie aß gern und viel und war – im Gegensatz zu Ann-Katrin – eine echte Feinschmeckerin. Es kam selten vor, dass sie etwas gar nicht mochte oder nicht probieren wollte, egal in welchem Land. Wäre diese Genussfähigkeit Marieles Körperbau nicht so unzuträglich, hätte Petra mehr Freude daran haben können, in Sachen Essen mit einem unproblematischen Kind gesegnet zu sein.
Sie selbst und Ann-Katrin waren – wie Uli Winkler – normal groß und eher vom knochigen Typ. Petra freute sich über jedes Pfund, das ihr Gesicht etwas aufpolsterte. Und Paul war ein Bilderbuch-Athlet. Marie-Lisa hatte auch eine blassere Haut als der Rest der Familie. Mit ihren roten Locken neigte sie zu Sommersprossen. Hätte Petra sie nicht selbst zur Welt gebracht, würde sie denken, damals das falsche Kind mit nachhause genommen zu haben.
Rote Haare, hatte sie mal im Biologie-Unterricht gelernt, vererbten sich oft erst in der übernächsten Generation. Da sie weder ihre Mutter noch deren Eltern kennengelernt hatte, schien demnach alles im Bereich des Möglichen. Zuweilen kam es vor, dass Uli Winkler Marie-Lisa lange und nachdenklich betrachtete. Mit ihr hatte er gleich mehr anzufangen gewusst als mit Ann-Katrin, obwohl sie weder ehrgeizig noch sportlich war. Marie-Lisa war einfach anders und Uli Winkler schien einen Narren daran gefressen zu haben.
Ihre Kleinste hielt nicht viel von Bewegung. Nur das Reiten machte ihr Spaß. Deshalb hatte Petra – obwohl Paul es für eine Schnapsidee hielt – ihr ein Pferd zum elften Geburtstag geschenkt. Ann-Katrin war sprachlos gewesen vor Wut. Zum Ausgleich hatte Paul seiner Ältesten das iPhone zum Vierzehnten gekauft. So war es immer: Petra sorgte sich ein bisschen mehr um Marie-Lisa und Paul ein bisschen mehr um Ann-Katrin – als hätten sie die Kinder unter sich aufgeteilt. Es war eben nicht leicht mit zwei Mädchen. Das kannte Petra von zuhause.
Marie-Lisas Pferd stand in einem Reitstall bei Aying. Petra oder Paul fuhren zwei Mal unter der Woche und einmal am Wochenende mit ihr hinaus. Das störte Paul ganz besonders an diesem Gaul. Wäre es nach ihm gegangen, hätten beide Kinder sich Hobbies ausgesucht, für die sie keine Eltern brauchten. Nicht mehr lange, und Mariele würde den Weg endlich alleine mit der S-Bahn zurücklegen können. Sie kümmerte sich gut um das Tier und kam dabei auch noch an die frische Luft. Dummerweise reagierte Ann-Katrin allergisch auf Pferdehaare. Das machte die Sache deutlich komplizierter.
***
„Oh Mann, Mariele! Kannst du auch mal an was anderes denken, als immer nur daran, was du als nächstes in dich reinstopfst? Das ist echt pervers. Sieh dich doch mal an.“
„Ann-Katrin!“
Paul blickt seine älteste Tochter böse an.
„Was denn? Ist doch wahr. Einer muss es ihr doch mal sagen. Wenn ihr sie so weitermachen lasst, wird sie noch so fett werden wie Rebel Wilson. Sie klaut jetzt schon Kleider aus meinem Schrank, obwohl sie viel kleiner ist als ich.“
Marie-Lisa bleibt der Sushi-Happen in den Backentaschen stecken. Das Blut staut sich in ihrem Kopf. Sie ist den Tränen nahe.
„Wow, bravo, Ann-Katrin. War das jetzt wirklich nötig?“, schimpft Petra und tätschelt Marie-Lisas Hand.
„Lass dich nicht ärgern, Süße. Ann-Katrin hat heute wieder schlechte Laune. Das kennen wir ja schon.“
Doch es ist bereits zu spät. Mariele spuckt das Sushi-Stückchen auf ihren Teller und rennt heulend aus dem Zimmer. Paul stöhnt auf und geht ihr nach.
Ruhig wie im Gerichtssaal legt Petra ihre Stäbchen beiseite und faltet die Hände vor sich auf dem Tisch. Sie beobachtet Ann-Katrin, die eine große Menge Wasabi in ihre Sojasoße rührt. Hingebungsvoll reißt Kati der flachen Garnele auf dem Reisbrocken vor ihr die Schwanzflosse aus. Dann taucht sie das Nigiri in die grün-braune Soße.
„Is was?“, fragt sie ohne aufzusehen.
„Sag du’s mir“, antwortet Petra unbeeindruckt.
Kati schiebt das Nigiri in den Mund und kaut versonnen, während sie ihre Mutter zurück taxiert.
„Mamas grauer Haaransatz ist schon wieder rausgewachsen. Komisch, dass sie das nicht stört. Mit dem Pixie-Cut vom letzten Sommer hat sie viel besser ausgesehen. Ich frage mich, warum sie sich die Haare wieder wachsen lässt? Diese Topffrisur macht sie hundert Jahre älter. Erinnert mich irgendwie an Frau Langer, meine Chemie-Lehrerin. Die ist schon fast in Rente.“
Sie schluckt den Reisklumpen herunter. Die Ebis mag Kati am liebsten. Drei davon liegen noch auf der Platte. Da sich keiner mehr dafür zu interessieren scheint, legt Ann-Katrin sie nebeneinander auf ihren Teller und zupft ihnen der Reihe nach die Schwanzflossen aus. Petra kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Tochter diesen Akt sadistisch zelebriert.
„Willst du auch noch eins?“, fragt Ann-Katrin beiläufig.
„Nein, danke. Iss sie nur alle auf. Ich bin froh, dass es dir schmeckt. Allen anderen ist der Appetit ja leider vergangen. Wäre schade drum, wo das Zeug doch so teuer ist.“
„Na und? Jetzt, wo Papa jeden Abend arbeiten muss, können wir es uns ja leisten“, kontert Ann-Katrin.
Langsam dämmert bei Petra, woher der raue Wind weht:
„Sie versteht nicht, warum Paul neuerdings arbeiten geht. Sie vermisst ihn wohl sehr. Da sie nachmittags oft Schule hat und Paul gegen sieben das Haus verlässt, sehen sie sich viel weniger als früher. Marie-Lisa hat mehr von ihrem Papa, weil sie mittags schon nachhause kommt.“
Petra lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück:
„Niemand hat von deinem Vater verlangt, dass er abends arbeitet. Das hat er sich selbst so ausgesucht. Er hätte auch was anderes machen können. Zum Beispiel studieren.“
Kati kaut schon wieder auf dem nächsten Nigiri herum. Da es nicht den Eindruck macht, als ob sie etwas dazu sagen wolle, fährt Petra fort:
„Es ist doch wichtig für Papa, dass er sein eigenes Geld verdient, findest du nicht? Niemand sollte finanziell von anderen abhängig sein. Zumindest nicht auf Dauer. Ich hoffe sehr, dass auch du das mal beherzigst. Solange du in Ausbildung bist, erhältst du natürlich jede Unterstützung von uns, die du brauchst. Das ist ja selbstverständlich. Aber danach solltest du schon für dich selbst sorgen können.“
Ann-Katrin hat ihren Mund inzwischen leer gegessen.
„Klar. Ich will aber auch nicht studieren, sondern Surflehrerin werden und auf Tahiti eine Surfschule aufmachen.“
Petra lacht laut auf. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.
„Da gibt es doch gar kein WLAN, Süße. Da würdest du es keine drei Tage aushalten.“
„Natürlich gibt es da WLAN. Überall auf der Welt gibt es heute WLAN. Auf welchem Stern lebst du eigentlich, Mama?“
Petra schluckt:
„Lieber Himmel! Vielleicht war es doch ein Fehler, Paul die Kinder so lange anzuvertrauen. Wer weiß, welche absurden Ideen er ihnen noch eingepflanzt hat. Die Äpfel fallen bekanntlich nicht weit vom Stamm. Leider ist das hier nicht mein Stamm.“
Doch sie sagt:
„Das sehen wir dann, wenn es soweit ist. Bis dahin hast du ja noch ein paar Jahre Schule vor dir.“
Anne-Katrin zuckt mit den Schultern:
„Warum? Um Surflehrerin werden zu können, brauche ich kein Abitur. Ein Realschul-Abschluss würde auch reichen.“
Jetzt drohte das Gespräch ins Groteske abzudriften. Petra steht auf und beginnt, die leeren Teller einzusammeln.
„Du denkst nicht wirklich daran, nach der zehnten Klasse die Schule zu schmeißen?“
„Streng genommen könnte ich schon nach der neunten …“
Obwohl Petra spürt, dass ihre Tochter sie nur provozieren will, stellt sie den Stapel mit Tellern unsanft vor sich ab.
„Oh nein, meine Süße, das kannst du nicht! Bis achtzehn bist du schon mal schulpflichtig. Wer hat dir überhaupt diesen Floh ins Ohr gesetzt? Papa etwa?“
„Sicher nicht! Der würde nie was sagen, worüber du dich ärgerst. Der will es dir doch immer nur mega recht machen! Nur deshalb arbeitet er jetzt. Dabei verdienst du wirklich genug Kohle, oder? Du tust doch nichts anderes als arbeiten, arbeiten, arbeiten. Und wenn du mal nicht arbeitest, dreht sich bei dir alles nur um Mariele. Wir leben hier in einer schicken Bude, aber wir haben keinen Vater mehr, weil der Cocktails in einer scheiß Hotelbar mixt. Weißt du, wie die mich neuerdings in der Schule nennen? … Ann-Daiquiri.“
Petra ist sprachlos. Und dann sehen sie Paul im Türrahmen stehen. Ann-Katrin schiebt wütend ihren Stuhl zurück und stapft an ihm vorbei in ihr Zimmer, wo sie die Tür zuknallt. Seufzend macht Paul auf dem Absatz kehrt, um nun seiner zweiten Tochter nachzulaufen.
Als er später ins Bett steigt, hat Petra die Lesebrille auf der Nase und eine Mandanten-Akte auf den Knien liegen:
„Oh Mann, Paul, was haben wir nur falsch gemacht bei Ann-Katrin? Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass dieser Abend so enden könnte.“
Paul schlüpft unter die Decke und knipst seine Nachttisch-Lampe aus.
„Oh Frau, lass uns schlafen. Ich will jetzt nicht mehr darüber reden. Ich bin todmüde. Morgen ist ein neuer Tag und dann sehen wir weiter.“
Er beugt sich kurz zu ihr hinüber und drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann dreht er sich um und schläft sofort ein. Wehmütig denkt Petra an den Kuss vom Nachmittag zurück. Sie legt Brille und Akte beiseite und löscht ebenfalls ihr Nachtlicht.
„Wie großartig er das wieder gemacht hat mit den Mädchen. Ich weiß nicht mehr, was in ihnen vor sich geht. Das muss sich ändern. Beide kommen jetzt in ein Alter, wo sie ihre Mutter mehr brauchen als ihren Vater. Da geht es um das Frau-Werden. Gerade jetzt, in der Pubertät, müssen die Mädchen wissen, wo ihre Grenzen sind. Da lässt Paul ihnen zu viel durchgehen. Sie brauchen Führung: die erste Periode, der erste Kuss, der erste Sex. Was kann Paul ihnen darüber schon erzählen? Es ist schlimm genug, dass ich in dieser schwierigen Phase ohne Mutter aufwachsen musste. Glücklicherweise ist das bei uns anders.“
Am nächsten Morgen ist Pauls Bett bereits leer. Petra sieht auf die Uhr: So lange schläft sie sonst nie. Sie steht auf, zieht sich den Bademantel über und geht hinunter in die Küche, von wo ihr die ausgelassenen Stimmen der Mädchen entgegen schwappen.
„Diese Kinder! Sie vergessen blitzschnell und fangen jeden Morgen noch mal ganz von vorne an. Beneidenswert.“
In Petra hingegen hallt der verdorbene Abend nach. Paul steht am Herd und klappert mit zwei Crêpe-Pfannen. Es riecht fantastisch. Petra schaut ihm kurz über die Schulter:
„Hmmm, das duftet aber lecker.“
„Dann setzt dich gleich an den Tisch.“
Als sie sich ihrem Stuhl nähert, steht Ann-Katrin auf, um Paul zu helfen. Die ausgelassene Stimmung ist futsch. Marie-Lisa schleckt an einem Zuckerstück, bevor sie es in den Mund schiebt und zerbeißt. Petra tut das Geräusch in den Ohren weh, doch sie lächelt Mariele an:
„Na, meine Süße, wie hast du geschlafen?“
„Gut. Und du?“
„Auch gut, danke. Ich war wirklich sehr müde gestern.“
„Das bist du doch immer, Mama.“
Marie-Lisa sagt es ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Es ist eine ganz neutrale Feststellung. Doch in Petra steigen die trüben Gedanken der letzten Nacht wieder auf.
„Ich muss unbedingt etwas ändern. Am besten bespreche ich gleich nach den Ferien mit Arndt, wie wir uns zukünftig anders organisieren. Warum sollte nicht auch ich im Home Office arbeiten können? Das müsste sich doch einrichten lassen.“
Ann-Katrin stellt eine Platte mit dünnen Pfannkuchen auf den Tisch und verteilt sie auf die Teller. Marie-Lisa fängt sofort an, ihren Crêpe dick mit Nutella zu bestreichen. Es schmerzt Petra in der Seele, ihr dabei zuzusehen. Aber sagen will sie nichts.
„Wir sollten einfach kein Nutella mehr kaufen. Basta.“
Petra blickt in die kauende Runde:
„Danke, dass ihr auf mich gewartet habt.“
„Haben wir gar nicht“, erwidert Ann-Katrin mürrisch.
„Du bist nur gerade noch rechtzeitig gekommen.“
Ihre Worte treffen Petra bis ins Mark. Was sollte sie nur machen mit diesem störrischen Kind?
„Es reicht jetzt, Kati. Haben wir nicht gestern ausführlich über alles gesprochen?“, kommt Paul ihr zur Hilfe. Petra winkt ab:
„Lass nur. Dann eben danke, dass ich ausschlafen konnte.“
„Kannst du von mir aus immer“, grummelt Ann-Katrin weiter.
Marie-Lisa leckt sich das Nutella von den Fingerspitzen. Der Rest des Frühstücks verläuft friedlich.
***
„Glaubst du wirklich, es war eine gute Idee, dieses Jahr Doris und Elke für Heiligabend einzuladen? Die Situation scheint mir auch ohne sie schon angespannt genug zu sein.“
„Und was soll ich jetzt machen, Paul? Sie wieder ausladen?“
„Warum nicht? Meine Eltern sind ja auch nicht eingeladen.“
„Hättest du deine Eltern denn gern dabei gehabt?“
„Sicher nicht!“
„Hätte mich auch gewundert.“
„Wieso?“
„Weil du deine Eltern noch nie zu uns eingeladen hast. Du fährst immer nur hin.“
„Das war bei dir nicht anders, als Uli noch lebte.“
„Stimmt. Aber jetzt, wo Papa tot ist, habe ich keine Lust mehr, dort hinzugehen. Alles würde mich an ihn erinnern und trotzdem würde es sich nicht mehr wie zuhause anfühlen.“
„Verstehe.“
„Und warum lädst du deine Eltern nicht auch mal in unsere neue Wohnung ein? Willst du ihnen nicht zeigen, wie schön wir uns hier eingerichtet haben?“
„Wozu? Mein Alter wird sicher keine Gelegenheit auslassen zu betonen, dass nichts davon mir gehört.“
„Als ob es darum ginge? Es ist trotzdem dein Zuhause.“
„Komische Sache mit diesem Zuhause – oder, Petra?“
„Stimmt. Deshalb ist es mir auch so wichtig, für unsere Kinder ein echtes Zuhause zu schaffen. Eins, wo man gerne hingeht. Wenn wir selbst schon keins haben.“
***
„Du, Paul?“
„Hmm?“
„Weißt du eigentlich, was Ann-Katrin mit ihrem iPhone so alles treibt? Das Ding scheint mit ihrer Hand verwachsen zu sein.“
„Ehrlich? Keine Ahnung. Am Anfang hatte ich noch Einblick in ihre WhatsApp-Aktivitäten. Als ich ihr aber sagte, dass es mir nicht gefällt, wenn sie unter der Woche nachts online ist, hat sie mich kurzerhand blockiert. Jetzt bekomme ich gar nichts mehr mit.“
„Woher wusstest du, dass sie nachts online war?“
„In WhatsApp wird doch eingeblendet, wann du zuletzt online warst beziehungsweise ob du gerade online bist.“
„Wirklich? Ist mir nie aufgefallen. … Ich könnte doch nachsehen, wann sie zuletzt online war.“
„Dich hat sie ganz sicher schon blockiert.“
„Meinst du? Warte, ich probier’s mal. … Schau, ich habe sie noch in der Liste mit meinen WhatsApp-Chats.“
„Das hat gar nichts zu sagen. Siehst du in eurem Chat, wann sie zuletzt online war?“
„Wo würde ich das denn sehen?“
„Ganz oben unter ihrem Namen.“
„Nein. Da steht nichts.“
„O.k., die Funktion kann man allerdings auch ausschalten. Dann ist das für niemanden mehr sichtbar. Du kannst es bei anderen aber auch nicht mehr sehen. Ich denke nicht, dass Kati das getan hat. Dafür ist sie zu neugierig … Hast du diese Funktion bei dir vielleicht deaktiviert?“
„Ich? … Paul! … Ich hab bei sowas zwei linke Hände.“
„Vielleicht bist du mit einer von ihnen versehentlich drauf gekommen. Zeig mal her. … Nein, das ist bei dir nicht deaktiviert. Ich schaue mal, ob du bei Kati was im Status hast?“
„Was ist der Status?“
„Hier oben der Reiter, siehst du?“
„Ach, da. Und was müsste da drin sein?“
„Bilder, Videos, … Die können alle ansehen, die nicht blockiert sind. Da hat Kati garantiert was drin. Also bist du auch schon blockiert.“
„Mist.“
„…“
„Ich habe eine Idee, Paul“
„Da bin ich aber gespannt.“
„Sei doch nicht so gemein, bloß weil ich mich mit der ganzen Technik nicht so gut auskenne wie du. Wir könnten Marie-Lisa bitten, mit ihrem neuen Handy …“
„Also wirklich, Petra! Du kannst doch deine Tochter nicht für Spionage-Zwecke missbrauchen.“
„Warum denn nicht, bevor du komplett die Kontrolle über deine andere Tochter verlierst?“
„Nein, Petra! Das lässt du schön bleiben. Ich warne dich!“
„Hast du einen Überblick, wie es bei Ann-Katrin in der Schule läuft?“
„Leider nicht wirklich. Sie zeigt mir nichts mehr. Muss sie aber auch nicht, solange alles in Ordnung ist. Bald gibt es ja Zeugnisse. Dann wissen wir mehr.“
„Das macht mir alles gar kein gutes Gefühl, Paul. Du bist da viel cooler als ich. … Vielleicht ein bisschen zu cool?“
„Von wegen! Das sieht nur so aus.“
„Ich habe noch eine Idee.“
„Ohje. Du machst mir Angst.“
„Wir könnten nachts das WLAN ausschalten.“
„Prima! Wenn du unbedingt noch mehr Stress mit Kati haben willst, dann schalte ruhig das WLAN aus.“
***
„Was soll ich denn nun für Heiligabend einkaufen?“
„Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Worauf hättest du am meisten Lust, Paul?“
„Raclette.“
„Das machen wir doch immer an Weihnachten.“
„Warum für Doris und Elke mit guten Traditionen brechen?“
„Gut. Da muss dann auch keiner lange in der Küche stehen.“
„Stimmt. … Dann vielleicht doch kein Raclette. Ich möchte lieber lange in der Küche stehen.“
„Kommt nicht in Frage, Paul. Wenn, dann darf ich in die Küche. Du kannst ohnehin viel besser mit Doris und Elke. Genau wie mit unseren Mädels, übrigens.“
„Ach, Petra. Das wird schon wieder.“
„Meinst du? Komm sofort her und lass dich küssen.“
***
Am Abend des 24. Dezembers sind alle Geschenke verpackt:
– Drei Amazon-Gutscheine für Elkes Kinder.
– Ein pinkfarbenes Handy mit Bluetooth-Lautsprecher für Marie-Lisa.
– Ein GoPro-Kameraset und ein Fahrradhelm für Ann-Katrin.
Alles liegt unter dem geschmückten Tannenbaum, der sich in der großen Glasschiebetür zur Dachterrasse spiegelt. Draußen am Geländer funkeln die Lichterketten. Der Kühlschrank ist gestopft mit Dingen, die in ein Raclette-Schälchen passen, und auf dem Herd köcheln die neuen Kartoffeln vor sich hin.
Paul duscht noch schnell, während Petra mit Marie-Lisa den Tisch fertig deckt. Zehn Leute würden sie sein. Eine Prämiere in der neuen Wohnung. Und eine echte Feuertaufe obendrein.
Marie-Lisa steht vor der Anrichte. Stolz trägt sie das grüne Nickykleid, das sie extra für diesen Abend gekauft haben. Mit ihren roten Locken sieht sie hinreißend darin aus. Petra wünschte, Uli könnte sie so sehen.
Ann-Katrin räkelt sich auf dem Sofa. Sie macht Selfies mit Christbaum im Hintergrund und traktiert das Display ihres iPhones mit flinken Fingern. Petra ärgert sich über ihre löchrige Jeans und das ausgeleierte Sweatshirt. Ann-Katrin macht keine Anstalten, etwas daran zu ändern.
„Welche Gläser soll ich nehmen?“, fragt Marie-Lisa vergnügt.
„Nimm die kleineren für den Weißwein und die Wassergläser dazu. Danke, meine Süße.“
Mit majestätischen Schritten trägt Marie-Lisa jeweils zwei Gläser zum Tisch. Sie muss oft laufen, aber sie mag es, wie der weite Rock um ihre Beine schwingt.
„Du könntest ruhig auch mal helfen“, zickt sie ihre Schwester von der Seite an.
„Warum? Du machst das mega gut. Ich würde nur was fallen lassen.“
So ging das schon den ganzen Tag. Petra kann es kaum noch ertragen:
„Warum hat sie es so auf ihre kleine Schwester und meine Nerven abgesehen? Sie stichelt bei jeder sich bietenden Gelegenheit und Marie-Lisa reagierte wie gewünscht darauf. Ich selbst leider auch.“
„Könntest du ausnahmsweise friedlich sein, Ann-Katrin? Nur heute?“, fleht sie ihre Tochter an. Die zuckt nur mit den Schultern:
„Ich bin ja ganz friedlich, wenn ihr mich in Ruhe lasst.“
„Es ist Heiligabend, Ann-Katrin, das Fest der Liebe – nicht nur der Geschenke. Hast du das schon vergessen?“
Ann-Katrin sieht nicht einmal von ihrem Handy auf:
„Wie könnte ich, bei dem Weihnachtstheater, das ihr hier veranstaltet? Für wen eigentlich? Für Doris und Elke?“
Petra hebt gerade zu einer Antwort an, als Paul das Zimmer betritt. Sofort vergisst sie, was sie sagen will, und denkt:
„Warum sieht dieser Mann nur immer so teuflisch gut aus? …“
Immerhin hat sie es vor Weihnachten noch zum Frisör geschafft. Sie trägt jetzt wieder einen Pixie-Cut, weil ihr Frisör meinte, dass Petra zehn Jahre jünger damit aussähe. Dazu hat sie das schwarze Seidenkleid von der Hochzeit ihrer Freundin aus dem Schrank geholt. Zum Glück passt es nach den beiden Kindern wieder. Zur Feier des Tages stecken ihre Füße in den schwarzen Jimmy Choos – das einzige Paar Highheels, das sie besitzt. Heute würde sie viel sitzen müssen.
Paul fasst Petra um die Taille und zieht sie an sich heran:
„Hallo, schöne Frau. Sie kenne ich doch irgendwo her?“
Sein Eau-de-Toilette lullt sie ein. Sie kichert:
„Ich glaube, wir haben uns mal auf einer Hochzeit getroffen.“
„Oooh Leute! …“, stöhnt Ann-Katrin von der Couch herüber.
„Ihr seid mega peinlich!“
„Gar nicht“, faucht Marie-Lisa zurück. Ihre Augen funkeln:
„Ich finde, ihr seht ganz toll zusammen aus.“
Paul dreht sich lächelnd zu ihr um:
„Da ist ja noch so eine Schönheit.“
Marie-Lisa wird rot. Schnell läuft sie zum Schrank, um weitere Gläser zu holen. Paul schlendert hinüber zum Sofa:
„Scheint, als sei ich von hübschen Frauen umzingelt.“
Er legt seine die Hände von hinten auf Ann-Katrins Schultern.
„Oh bitte, nerv nicht“, brummt seine Tochter in ihr Handy vertieft.
„Denkst du nicht, es wäre an der Zeit, dich umzuziehen, Kati?“
„Wozu denn? Bin ich dir etwa immer noch nicht hübsch genug?“
Paul kniet sich hinter das Sofa und sieht auf ihr Handy:
„Wer ist das?“
„Franzi. Vorm Tannenbaum.“
„Wäre ich nie drauf gekommen. Hätte auf tiefstes Sibirien getippt.“
„Haha. Das ist mit einem Frost-Filter gemacht.“
„Ach so. Na dann. … Willst du das iPhone für heute nicht mal weglegen und dich ganz deiner Familie schenken?“
„Nein, will ich nicht“, antwortet Kati ohne aufzublicken.
„Wie schade.“
Petra zuckt zusammen als es klingelt. Sie wirft Paul einen bangen Blick zu. Der grinst nur:
„Ruhig Blut. Wir werden es überleben. Ich mache auf.“
Kurz darauf hört sie Stimmen im Flur und hält einen Moment inne, um verstehen zu können, was gesprochen wird. Es sind die üblichen Begrüßungsfloskeln:
„Hallo Doris, schön, dich mal wieder zu sehen.“
„Guten Abend, Paul. Danke für die Einladung.“
„Hey, Alter, wie geht’s? Wo kann ich die Jacken ablegen?“, fragt Wolfgang, Elkes Mann. Dann hört sie wieder Doris:
„Hier. Ich habe euch eine Kleinigkeit mitgebracht.“
„Aber Doris, wir hatten doch gesagt, dass es keine Geschenke für die Erwachsenen gibt.“
„Ach, das ist doch kein Geschenk, Paul, es ist nur eine Flasche Wein für heute Abend. Ihr habt ja die ganze Arbeit.“
„Danke, Doris. … Mensch, bist du groß geworden, Raffael! Und wie hübsch Carlotta heute aussieht.“
Paul ist charmant wie immer. Petra versucht, sich alle seine Sätze zu merken, damit sie nicht dieselben Phrasen noch einmal herunter leiert.
Unsichere Blicke schweifen durch den festlichen Raum und bleiben erwartungsvoll an Petra hängen. Paul zwinkert ihr beim Eintreten zu. Petra stellt das letzte Glas an seinen Platz und streicht ihr Kleid noch einmal glatt, bevor sie mit ausgebreiteten Armen auf ihre Familie zugeht. Sie will nicht jedem die Hand geben müssen.
„Hallo zusammen! Herein in die gute Stube. Schön, dass ihr da seid.“
„Ann-Katrin hat Recht: Ein richtiges Weihnachtstheater spielen wir hier! Was, zum Teufel, habe ich mir dabei gedacht? …“
Mit Doris und Elke wechselt Petra ein Küsschen rechts und links. Paul grinst, weil Doris sich an der obligatorischen Nesseltasche festhält, die sie stets mit sich führt. Meistens enthielt sie Süßigkeiten für die Kinder. Wie Falschparker stehen alle auf ihren Plätzen. Paul kann es sich nicht länger mitansehen und klatscht etwas zu laut in die Hände:
„Also, wer möchte einen Sekt zum Vorglühen?“
Im Gegensatz zu ihren Kindern Raffael, Lenard und Carlotta scheinen sich Wolfgang und Elke nicht wohl zu fühlen in ihrer Haut. Noch immer stehen sie am gleichen Fleck und weichen sich nicht von der Seite. Petra bemerkt, wie sehr ihre Halbschwester gealtert ist, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben:
„Warum zieht sie sich auch immer so unvorteilhaft an? …“
Heute war sie in getigerten Leggins, einem silbernen Pulli und riesigen Goldkreolen in den Ohren erschienen. Die schwarz umrandeten Augen und der blasse Lippenstift ließen sie noch fahler wirken. Seit Petra zurückdenken kann, trägt Elke ihre Haare lang und offen – Wolfgang zuliebe. Sie hat sie noch nie anders gesehen.
„Unter dem Blond ist sie garantiert auch schon ergraut …“, vermutet Petra. Wolfgang steht neben seiner Frau und greift ihr Halt suchend an den Po, was Elke mit einem strengen Blick quittiert.
„Ist doch nett hier, Schätzchen – oder? … Also ich würde ein Gläschen Sekt nehmen, Paul. Elke muss heute fahren.“
Petra merkt, wie ihr der kalte Schweiß am Rücken klebt.
Das Raclette-Essen zieht sich über zwei Stunden hin. Sie haben damit begonnen, Neuigkeiten auszutauschen: Carlottas Saxophon, Marie-Lisas Pferd, Raffaels schlechte Mathe-Note, Wolfgangs mieser Boss, die Macken von Petras Mini und die Vorzüge von Elkes Thermomix. Bei Pauls Hotelbar-Anekdoten reißt die Stimmung endlich auf, und nach den ersten beiden Weinflaschen kann sogar Petra darüber lachen. Selbst Ann-Katrin muss von Zeit zu Zeit grinsen.
„Und du, Doris? Was gibt es bei dir Neues?“, fragt Petra.
„Ach, nicht viel. Ich habe die letzten Wochen ein bisschen ausgemistet und umgeräumt und einen Syrer aufgenommen.“
Petra verschluckt sich fast an ihrem Weißwein:
„Wie bitte?“
Paul lacht ebenso überrascht:
„Na, das nenne ich mal ne Schlagzeile, Doris!“
Es ist ihr peinlich, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen.
„Ich dachte mir, Platz genug habe ich ja. Eigentlich hätte ich gut und gerne eine ganze Familie aufnehmen können. Aber von euch wollte ja keiner zu mir ziehen. So fange ich eben mal mit einem Syrer an.“
Doris lächelt gezwungen. Petra kann es noch nicht fassen:
„Also, jetzt will ich aber alles wissen. Woher kommt er? Wie heißt er? Wie alt ist er?“
Doris legt ihr Besteck nieder und blickt verlegen um sich. Paul springt ihr bei::
„Hey, Schatz, mach jetzt bitte kein Verhör draus.“
Doch Petra lässt Doris nicht aus den Augen:
„Los, erzähl schon.“
Doris holt tief Luft als bereite sie sich darauf vor, eine Weile unter Wasser zu bleiben:
„Er heißt Achmed, ist 43 Jahre alt und kommt aus Aleppo, wo ja alles kaputt ist. Viel mehr habe ich aus ihm noch nicht herausbekommen, weil er kaum Deutsch spricht und kein Wort Englisch. Ich schätze, er ist auch sonst eher schweigsam. Vermutlich hat er einiges durchgemacht im Krieg und auf der Flucht. Ich will da nicht zu sehr in ihn dringen.“
Petra nickt verständnisvoll.
„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“
„Ich habe dem Flüchtlingsheim Kleider und Möbel eures Vaters angeboten und Achmed hat beim Transport geholfen. Er hat immer wieder angeboten, mir auch sonst zur Hand zu gehen, weil ich doch ganz alleine sei. Er dachte erst, dass ich gar keine Familie hätte.“
Aus dem Augenwinkel bemerkt Petra, wie sich Wolfgangs Brauen heben. Der Rest am Tisch schweigt und wartet auf die Fortsetzung. Doris räuspert sich und trinkt ihr Weinglas leer, bevor sie weiterspricht:
„Er hat mir dann auch noch beim Umräumen geholfen und sich furchtbar angestellt, als ich ihm etwas dafür geben wollte. Er sagte, von mir würde er nichts annehmen, weil ich ein goldenes Herz hätte.“
Bei diesem Satz errötet Doris ein wenig. Doch sie lächelt beseelt.
„Und im Garten hat er auch ordentlich mit angepackt. Das kann er wirklich gut: im Frühjahr die Obstbäume schneiden und so. Sein Vater war wohl Bauer.“
„Obstbäume schneiden?“, wiederholt Petra entgeistert.
„Seit wann wohnt Achmed denn schon bei dir?“
„Seit März. Ich habe ihm manchmal, wenn es später wurde, Ulis Couch für die Nacht hergerichtet. Die Busse raus zum Flüchtlingsheim fahren irgendwann nicht mehr. Deshalb hängen sie dort abends sehr dicht aufeinander. Das war für ihn als Araber unter den vielen Kurden nicht leicht. Mir war gar nicht bewusst, dass es da solche Spannungen gibt.“
Paul nickt nachdenklich:
„Die schleppen ihre Konflikte tatsächlich den langen Weg bis hier her.“
Doris scheint es Mut zu machen, dass Paul ihr zustimmt:
„Irgendwie schon. Deshalb hat er mich gefragt, ob er nicht bei mir wohnen könne, wo ich doch so viel Platz hätte und so allein wäre. Für mich ist es ja auch gut, wieder einen Mann im Haus zu haben, weil ich das alles gar nicht mehr schaffe. Ich fühle mich viel sicherer seither.“
Elke blickt stur unter sich. Die Sache scheint ihr nicht zu behagen.
„Irgendwas ist hier faul …“, denkt Petra und nimmt sich vor, die Lage bald aus der Nähe zu inspizieren. Der Gedanke, dass ein Fremder im Büro ihres Vaters wohnt, gefällt auch ihr nicht sonderlich. Sie weiß nicht, warum.
„Es gibt doch die kleine Einlieger-Wohnung im Souterrain. Doris hätte ihn auch dort einquartieren können …“
„Also, ich finde das saucool, Oma! Warum hast du Achmed nicht mitgebracht?“, mischt Ann-Katrin sich plötzlich ein.
„Ja, ich hab mich auch schon gewundert, warum Achmed nicht dabei ist. Sonst weicht er dir ja nicht von der Seite“, bemerkt Wolfgang schnippisch. Doris reagiert nicht darauf.
„Brauchst du dein Raclette-Schälchen noch, Oma?“, fragt Marie-Lisa. Sie ist damit beschäftigt, ihr Pfännchen neu zu laden. Petra bezweifelt, dass der hohe Turm noch unter die Heizspirale passt. Der Turm bringt alle zum Lachen. Damit ist das Thema #Achmed erst mal vom Tisch.
Nach einer kurzen Wohnungsbegehung trifft man sich auf der Leder-Couch wieder. Im Hintergrund singt Frank Sinatra und Paul hat damit begonnen, die Christbaum-Kerzen anzuzünden. Petra steht auf ihren hohen Absätzen neben ihm wie die Wetterfee:
„Dann wollen wir mal mit der Bescherung anfangen – was? Also … Da haben wir einen Umschlag für Carlotta, … einen für Raffael … und einen für Lenard. Frohe Weihnachten!“
Elkes Kinder bedanken sich artig. Auch Elke und Doris nutzen die Gelegenheit, ihre Amazon-Gutscheine zu verteilen. Petra fährt fort:
„Und hier haben wir noch zwei Pakete für unsere Ann-Katrin. Frohe Weihnachten, meine Süße!“
Widerwillig lässt sich Ann-Katrin von Petra umarmen, bevor sie mit dem Geschenk auf ihren Platz zurückkehrt. Da sie den Inhalt schon kennt, ist ihre Freude verhalten. Den Helm musste sie anprobieren und die GoPro hatte sie haarklein auf ihrem Wunschzettel beschrieben. Petra und Paul brauchten den Zettel nur noch abzuarbeiten. Nächstes Jahr würde sie es mit dem Laptop genauso handhaben.
Petra schubst Paul an:
„Wie sieht’s aus? Magst du Marie-Lisa ihr Geschenk nicht geben? Du hast es schließlich ausgesucht.“
Ohne Pauls Antwort abzuwarten, springt Marie-Lisa auf und läuft zum Christbaum. Paul zieht die letzten beiden Päckchen darunter hervor:
„Na klar – wenn du es nicht selbst machen möchtest? Du hast es doch mit ausgesucht. Erinnerst du dich?“
Marie-Lisa greift direkt nach dem bunt umwickelten kleinen Kasten in Pauls rechter Hand, doch Paul hält das Geschenk noch eine Weile fest, um sie zu ärgern:
„Frohe Weihnachten, Mariele. Ich hoffe, du weißt es zu schätzen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir noch ein Jahr damit gewartet.“
Marie-Lisa nickt und hüpft mit ihren Geschenken noch schnell bei Petra vorbei, um sich zu bedanken. Petra schließt ihre Tochter fest in die Arme.
Kurz darauf durchschneidet ein Schrei die festliche Stimmung:
„Du blöde scheiß Kuh!“
Marie-Lisa ist außer sich und Kati hängt glucksend über der Sofalehne:
„Mega! Danke, danke, danke Mariele für dieses obergeile Sad Eye. Das gibt bestimmt sauviele Blitze.“
Alle Blicke wandern von Kati zu Mariele. Mit tränennassem Gesicht starrt sie auf das pinkfarbene Handy in ihrer Hand. Paul ist schockiert:
„Aber was hast du denn Mariele?“
Marie-Lisa kann kaum sprechen, so enttäuscht ist sie.
„Kati hat ein Snapshot-Foto von Mariele gemacht“, klärt die kleine Carlotta ihn auf. Elkes Kinder haben alles genau beobachtet, weil ihre Geschenke zuhause auf sie warten. Paul versteht es immer noch nicht:
„Warum, um Himmels Willen, weinst du denn so, Mariele?“
Marie-Lisa heult wütend auf:
„Ich hatte mir doch ein iPhone gewünscht – so eins wie Kati.“
„So ein Pech aber auch“, wiehert Ann-Katrin vor Lachen und wedelt mit ihrem Handy durch die Luft. Es ist der Moment, in dem Paul der Kragen platzt. Er stürzt sich auf Ann-Katrin und reißt ihr das iPhone aus der Hand.
„Hey! Was soll das, Papa? Chill dich mal wieder runter.“
Doch Paul denkt gar nicht daran. Er ist auf 180:
„Das war’s, Ann-Katrin! Ich habe die Schnauze jetzt endgültig voll. Geh in dein Zimmer. Ich will dich heute nicht mehr sehen.“
Wenn Paul die Namen seiner Kinder richtig aussprach, war Schluss mit lustig. Die Kinder wissen das. Ann-Katrin stürmt zornig zur Tür:
„Klar doch! Mir geht das ganze Theater hier eh nur auf den Zeiger. Das ganze Jahr über lästert Mama rum und nur weil Weihnachten ist, sollen sich alle mal kurz lieb haben.“
Es ist totenstill im Raum. Nur Frank Sinatra singt und Marie-Lisa zieht geräuschvoll die Nase hoch.
Wolfgang findet als Erster die Sprache wieder:
„Seid mir nicht böse, aber ich denke, wir fahren jetzt nachhause. Los Kinder, holt eure Jacken, damit auch ihr endlich eure Geschenke bekommt. Aber wehe, es gibt ein ähnliches Theater. Wenn ich gewusst hätte, was hier abgeht …“
Missbilligend schüttelt er den Kopf. Elke sieht ihre Schwester nur an, sagt aber nichts. Sie steht auf und folgt ihrem Mann dicht auf den Fersen. Wolfgang treibt die Kinder und ihre Jacken zusammen und lenkt seine Familie zur Wohnungstür. Kurz davor dreht Doris sich noch einmal um:
„Schade um die ganze Mühe, die ihr euch gemacht habt. … Ich habe übrigens meine Tasche neben dem Sessel stehen lassen.“
Petra ist noch im Schock:
„Ähm, ja, warte, … Paul, kannst du sie bitte mal holen?“
„Nein, nicht nötig. Sie ist für dich. Ich dachte, was drin ist, würde dich vielleicht interessieren. Ich habe es beim Ausräumen gefunden. Dein Vater hatte es ganz hinten in seinem Aktenschrank versteckt. Ich war mir erst nicht sicher, aber Elke meinte, das sei wichtig für dich und ich solle es dir unbedingt geben. Ich hoffe, das war richtig.“
Sie drückt Petras Arm und folgt den anderen, die schon den Aufzug gerufen haben.
Petra kann es mit keiner weiteren Überraschung aufnehmen. Ohne Umweg sucht sie Marie-Lisas Zimmer auf:
„Es macht mich unsagbar traurig, wie du dich aufgeführt hast. Papa und ich haben das Handy extra für dich ausgesucht, weil du pink so gerne magst. Und der Verkäufer meinte, es hätte die gleichen Funktionen wie Ann-Katrins iPhone. Die Kamera sei sogar noch etwas besser. Ich denke, wir sollten das alles erst mal sacken lassen und schlafen gehen. Es war ein schrecklicher Tag, über den wir noch reden müssen. Aber nicht heute. Ich kann nicht mehr.“
Petra geht zu Mariele und streichelt ihr über die roten Locken:
„Geh jetzt schlafen, Süße. In zehn Minuten will ich hier drin kein Licht mehr sehen.“
Marie-Lisa erwidert nichts darauf. Ihr grünes Nickykleid liegt auf dem Boden. Ann-Katrin hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert.
Paul stellt sicher, dass alle Kerzen aus sind. Das Aufräumen muss bis zum nächsten Tag warten. Er will nur noch ins Bett und schlafen und vergessen, was an diesem Abend im Hause Winkler coram publico geschehen ist. Im Bett beginnt Petra leise zu weinen. Er hört es nur an ihrem Atmen.
„Noch eine Prämiere …“, denkt er.
„Das hat sie noch nie getan. Nicht mal als ihr Vater gestorben ist.“
Hilflos schließt Paul seine Frau in die Arme:
„Ist ja gut. Das wird schon wieder.“
Doch er weiß nicht, was genau wieder werden soll.
Obwohl sie hundemüde ist, findet Petra keinen Schlaf. Gegen drei Uhr steht sie wieder auf, geht ins Arbeitszimmer und fährt ihren Laptop hoch. Sie tippt #snapshot-sad-eye in die Suchmaschine ein und findet viele Seiten, auf denen ihr entstellte Gesichter entgegen starren. Angewidert klappt sie den Laptop wieder zu und legt sich ins Bett.
Als sie morgens herunterkommt, hat Paul das Wohnzimmer bereits aufgeräumt. Er steht in der Küche und belädt die Spülmaschine. Von den Mädchen hört und sieht man nichts. Petra schlingt die Arme von hinten um seinen Bauch und schmiegt ihre Wange an seinen Rücken. Ihm ist diese neue Petra immer noch fremd:
„Na? Ein bisschen besser heute?“
„Ja. … Sag mal, kennst du eigentlich dieses Snapshot?“
„Nein. Das habe ich gestern auch zum ersten Mal gehört.“
„Ich habe heute Nacht danach gegoogelt.“
„Echt? Wann? Ich habe nichts gehört, so fertig war ich.“
„Das ist wieder so ein neuer Messenger. Ähnlich wie WhatsApp, nur mit Bildern. Ich hab’s nicht wirklich kapiert, wozu man das braucht. Da gibt es Filter, mit denen du beim Fotografieren die Gesichter entstellen kannst: mit Hundeschnauze oder Hasenohren und Frostbeulen und lauter so einem dummen Zeug. Sehr grotesk.“
„Und das hat Kati mit Mariele gemacht?“
„Offensichtlich. Genau in dem Moment, als Marie-Lisa ihr Geschenk ausgepackt hat und so enttäuscht war.“
Paul ist brüskiert:
„Ich werde wohl mal mit Kati reden müssen. Ich hab so was von einem Hals auf sie.“
„Dann lass mich das besser machen“, schlägt Petra vor.
„Das ist ja ganz was Neues. Wenn du meinst …“
Petra nickt:
„Ja. Willst du dafür mit Marie-Lisa zum Pferd raus fahren? Das tut ihr sicher gut. Mit ihr habe ich gestern Abend schon kurz gesprochen. Mein Gott, war mir das alles peinlich. Die anderen denken doch, wir haben einen an der Klatsche. Tränen wegen des falschen Handys. Und Ann-Katrins Feindseligkeit. Ich bin fassungslos. Wir sollten mal sowas wie eine Familien-Konferenz einführen.“
Paul pflichtet ihr bei:
„Ja, da haben wir viel Arbeit vor uns. Ich weiß noch gar nicht, wo wir anfangen sollen. Aber hier muss sich gewaltig was an der Einstellung ändern. Vielleicht brauchen wir externe Unterstützung dabei.“
Petra hebt abwehrend die Hand:
„Nur mal langsam. Das bekommen wir sicher auch alleine hin.“
„Das bezweifle ich. … Gleich nach dem Frühstück fahre ich mit Mariele zum Pferd. Tut mir sicher auch gut, hier mal rauszukommen.“
Zum ersten Mal freut sich Paul auf den blöden Gaul.
Wenig später findet sich auch Marie-Lisa in der Küche ein. Paul muss Ann-Katrin erst aus ihrem Zimmer holen. Er hat den Tisch bereits gedeckt und das Frühstück verläuft schweigsam. Nach dem Essen stellt Paul die Teller zusammen.
„Mariele, wenn du willst, fahren wir zum Pferd. O.k.?“
Endlich leuchten Marie-Lisas Augen wieder. Sie springt sofort auf und rast ins Bad, um sich zu waschen. Ann-Karin bleibt sitzen. Sie ist immer noch bockig:
„Und wann bekomme ich mein iPhone zurück?“
Paul sieht sie wütend an:
„Das besprechen wir, wenn ich wieder zurück bin.“
Katis Augen verengen sich. Es liegt etwas Panisches in ihrem Blick:
„Und wann ist das?“
Paul zuckt mit den Schultern:
„Weiß ich noch nicht. Irgendwann heute Nachmittag.“
Ann-Katrin verdreht die Augen:
„Geht es vielleicht auch etwas genauer?“
Da haut Paul mit der Faust auf den Tisch:
„Ich rate dir wirklich, deinen Tonfall heute ein bisschen zu mäßigen, meine Liebe.“
So gereizt hat Petra ihren Mann noch nie erlebt. Ann-Katrin tut ihr leid:
„Sollen wir zwei heute mal ins Kino gehen, Süße? Wir könnten uns auch hier einen schönen Film ansehen, wenn die anderen weg sind.“
Ihr Angebot verhallt im Raum. Ohne einen Kommentar rauscht Kati aus der Küche. Petra sieht Paul ratlos an:
„Es wird immer schwieriger mit diesem Kind.“
„Stimmt. Und ich dulde es nicht länger, dass sie so mit uns redet. Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist?“
Petra streichelt ihrem Mann über das unrasierte Kinn und lächelt voller Mitgefühl. Es musste hart für ihn sein, dass Ann-Katrin nun auch gegen ihn rebellierte.
„Sie pubertiert, Paul. … Ich denke auch, dass es besser ist, wenn du hier mal raus kommst.“
Paul schiebt Petras Hand auf die Tischplatte zurück.
„Da liegt übrigens noch Santa Doris’ Jutesack für dich.“
Er holt die Nesseltasche vom Buffet und reicht sie Petra. Die Tasche bringt sie beide zum Lachen.
„Und? Hast du schon reingeschaut?“
Paul schüttelt den Kopf:
„Natürlich nicht. Ist ja für dich.“
Petra zögert.
„Hast du etwa Angst, da reinzusehen?“, fragt Paul überrascht.
Sie nickt und reicht Paul die Tasche:
„Ja, tu du das bitte für mich.“
Paul zieht einen Bilderrahmen aus der Nesseltasche, dreht ihn um 90 Grad und starrt lange darauf. Nach einer Weile wird Petra ungeduldig. Sie reißt ihm das Bild aus der Hand. Es zeigt eine lachende Frau mit Lockenmähne. Obwohl es eine Schwarz-Weiß-Fotografie ist, sieht man an den Sommersprossen, dass es rote Locken sein müssen. Die junge Frau hält einen Säugling im Arm. Petra weiß sofort, dass sie es ist. Ihr Mund steht offen, aber es kommt nichts heraus.
„Damit klärt sich wohl einiges auf“, sagt Paul verstört.
„Ich dachte, es gäbe keine Bilder von deiner Mutter.“
„Dachte ich auch. Zumindest hat Papa das immer behauptet.“
„Was weißt du eigentlich über deine leibliche Mutter?“
„Nichts. Er hat leider nie über sie gesprochen. Ich weiß nur, dass sie uns verlassen hat, als ich noch ein kleines Baby war. Ich kann mich auch nicht an sie erinnern. Genau genommen, erinnere ich mich an gar nichts aus meinen ersten Lebensjahren. Mein Gedächtnis fängt erst bei Doris und Elke an.“
„Sie sieht verdammt jung aus auf dem Bild, findest du nicht, Petra?“
„Stimmt. Sieh mal: der gleiche Pubertätsspeck wie bei Marie-Lisa.“
Paul nickt:
„Ich würde sie auf unter Zwanzig schätzen. Wenn ich mir das ansehe, kann ich mir gut vorstellen, wie Mariele in fünf Jahren aussieht. Hoffentlich ohne Kind auf dem Arm.“
„Ich finde das richtig gruselig, Paul. Überleg doch mal: Ich bin 1962 geboren. Da war man erst mit 21 volljährig. Wenn du mich fragst, riecht das nach einem saftigen Skandal.“
„Schade, dass du deinen Vater nicht mehr fragen kannst.“
„Ja. Das ist wirklich sehr schade. So ein Idiot! Stirbt einfach und lässt mich mit diesem Foto allein. Und jetzt? Was mache ich jetzt damit?“
„Er wollte nicht, dass du es siehst, sonst hätte er es dir längst gezeigt.“
„Glaube ich nicht. Ich denke, er wollte nur nicht dabei sein, wenn ich es zum ersten Mal sehe, um keine unangenehmen Fragen beantworten zu müssen. Andernfalls hätte er es sicher vernichtet. Da wäre er kein Risiko eingegangen. Er will, dass ich etwas damit anfange. Ohne ihn.“
Kraftlos sitzt Petra auf ihrem Stuhl. Tiefe Furchen graben sich durch ihr Gesicht, wo sich über die Jahre ihre stärksten Charakterzüge verewigt haben. Schmerz, denkt Paul. So sieht Seelenschmerz aus. Zum ersten Mal, seit sie verheiratet sind, bemerkt er ihren Altersunterschied auch körperlich. Sie springen ihn förmlich an, die zwölf Jahre. Fast will er zurückweichen. Dann kullern wieder Tränen über Petras Wangen. Paul kann es nicht glauben. Er legt den Arm um ihre Schultern und wiegt sie wie ein kleines Kind. Hinter sich hören sie Katis bebende Stimme:
„Kannst du mir BITTE sagen, wann ihr zurück seid, Papa?“
Sie drehen sich zu ihr um. Auch Ann-Katrin sieht ihre Mutter zum ersten Mal weinen und wirkt verunsichert. Petra wischt sich die Tränen aus dem Gesicht:
„Warum ist das denn so wichtig, Süße?“
„Weil ich mein Handy heute unbedingt noch einmal brauche. Nur für fünf Minuten. Dann könnt ihr es wiederhaben.“
Paul sieht sie wütend an:
„Wenn ich in den nächsten 24 Stunden noch einmal das Wort Handy oder iPhone höre, vergesse ich mich. Garantiert! Siehst du denn nicht, dass es Mama schlecht geht?“
Ann-Katrin stampft mit dem Fuß auf:
„Verdammt! Seht IHR denn nicht, wie schlecht es MIR geht? Ich brauche mein Handy, und zwar noch VOR 21 Uhr. Wie könnt ihr bloß so gemein sein? Nur weil ich Mariele ein bisschen geärgert habe? Das machen große Schwestern nun mal so.“
Paul schreit sie fast an:
„Erzähl DU mir nicht, was gemein ist, Ann-Katrin! Geh lieber mal in dich und denk über DEINE Gemeinheiten nach! Es ist furchtbar, dass du das auch noch für normal hältst!“
„Hört endlich auf zu streiten“, funkt Petra dazwischen.
In Ann-Katrins Augen staut sich nun ebenfalls das Wasser.
„Könnt ihr mich nicht einfach schlagen, wie andere Eltern das machen? Ich verspreche auch, es nicht wieder zu tun.“
Paul schnappt nach Luft und ist kurz davor, Ann-Katrins Wunsch nachzukommen. Doch Petra hält ihn am Ärmel fest. Sie sieht ihre Tochter verwundert an:
„Warum brauchst du das Handy unbedingt vor 21 Uhr?“
Ann-Katrin kann die Tränen nicht länger zurückhalten:
„Weil sonst alle meine Blitze weg sind!“
„Was ist los?“, brüllt Paul. Petra wartet immer noch auf eine plausible Erklärung. Inzwischen ist auch Marie-Lisa abfahrbereit in der Küche gelandet. Sie klaut sich noch eine Scheibe Wurst vom Tisch, rollt sie zusammen und schiebt sie sich in den Mund.
„Schie meint ihre Schnapshot-Blitze. Wie viele hascht du denn?“, fragt sie ihre große Schwester.
„Gestern Abend waren es 766.“
Petra hat ihren eigenen Kummer vergessen:
„Kann mich bitte mal einer aufklären?“
Marie-Lisa genießt es, die Überlegene zu sein:
„Bei Snapshot bekommst du Blitze, wenn du ein Bild verschickst. Wie viele gab es denn für mein Sad Eye?“
Ann-Katrin spürt, dass sie besser nicht darauf antworten sollte. Marie-Lisa erklärt ihren verdutzten Eltern:
„766 … Das ist sauviel!“
Der neidische Blick ihrer Schwester tröstet Ann-Katrin nicht. Die Verzweiflung ist ihr genauso hart ins Gesicht gemeißelt wie wenige Minuten zuvor Petra der Schmerz. Die hat es noch nicht verstanden:
„Aber … was hat das alles mit der Uhrzeit zu tun?“
Es ist Marie-Lisas Sternstunde:
„Ganz einfach: Du musst innerhalb von 24 Stunden mindestens ein Foto aus Snapshot versenden, sonst verlierst du alle deine Blitze.“
Petra hebt die Augenbrauen:
„Und dann?“
Die beiden Mädchen sehen sich an. Ihre Mutter kapierte wirklich gar nichts. Ann-Katrin hält sich die Finger wie eine Pistole an den Kopf und drückt ab:
„Dann bin ich tot, erledigt. Dann kann ich wieder ganz von unten anfangen. Das hole ich doch nie mehr auf. Die anderen machen ja ständig weiter, während ich hier rumstehe und mit euch diskutiere.“
Schockiert sieht Petra ihren ebenso überraschten Mann an:
„Das gibt’s doch gar nicht! So erziehen sie unsere Kinder zu digitalen Junkies, Paul. Warum tut da keiner was dagegen? Und als Nächstes kommt dann Crystal – oder was?“
„Wer ist Christel?“, will Marie-Lisa wissen.
Paul weiß immer noch nicht, was er zu all dem sagen soll.
„Übertreibst du nicht etwas, Petra?“
„Das finde ich aber auch“, pflichtet Ann-Katrin ihm bei.
Petra erhebt sich vom Stuhl und geht auf ihre Töchter zu, die ängstlich zurückweichen.
„Na gut, dann wartet es ab. Ich bin Juristin. ICH werde etwas dagegen tun. Und wenn ich vor den internationalen Gerichtshof ziehen muss. Ich lass doch nicht zu, dass sie meine Töchter zu Handy-Junkies machen!“
„Wer ist denn diese Christel?“, flüstert Marie-Lisa ihrer Schwester zu. Doch Ann-Katrin ist schlecht geworden:
„Ach, vergiss es, Mariele. Die spinnt doch.“
Paul sagt keinen Ton mehr, aber Petras Augen funkeln. Sie ist jetzt richtig in Fahrt:
„Ach so, meinst du? Dann habe ich ja Narrenfreiheit und kann dich gleich mal auf Entzug setzen. Das iPhone bleibt bei uns. Du musst erst wieder lernen, ohne Blitze zu leben.“
Ann-Karin reißt die Augen weit auf und Marie-Lisa grinst leise, bis Petra ergänzt:
„Da gibt es gar nichts zu lachen, Marie-Lisa. Du kannst dein Handy auch gleich wieder bei uns abliefern.“
Die Mädchen stehen wie vom Donner gerührt in der Küche und starren ihre Mutter an, die sich mühsam wieder fängt:
„Ab heute machen wir jeden Tag eine Razzia. Erst mal wird Snapshot gelöscht, bevor ihr überhaupt daran denken könnt, eure Handys wieder in Betrieb zu nehmen. Und wenn ich dann noch EINMAL Snapshot auf einem der Handys sehe, ist es weg. Bis ihr volljährig seid. Bei Gott, das schwöre ich.“
Ann-Katrin blickt ihre Mutter vernichtend an:
„Dann kann es ja nicht so schlimm werden. Du glaubst ja nicht an Gott.“
Entsetzt hält Marie-Lisa sich die Hand vor den Mund. Doch Ann-Katrin ist nicht mehr zu bremsen:
„Du bist so was von scheiße, Mama! Es wundert mich kein bisschen, dass deine Mutter dich verlassen hat!“
Nun springt Paul doch noch vom Stuhl auf und Kati sieht zu, dass sie Land gewinnt.
***
Betreff: Unterstützung bei Personensuche
von: pwinkler@winkler-partner.de
an: loc@search-of-clues.net
Anhang: 20170327_1; 20170327_2
Datum: 27.03.2017 10:08:24
Hallo, ich habe Ihre E-Mail-Adresse von Arndt Huber, meinem Rechtsanwaltskollegen. Er meint, ich solle mich auf der Suche nach einer Person (meiner leiblichen Mutter, die ich nie kennengelernt habe) an Sie wenden. Beigefügt finden Sie das einzige Foto, das ich von ihr habe. Laut meiner Geburtsurkunde heißt sie Judith Gerieder (siehe PDF im Anhang). Meine Eltern waren nicht verheiratet. Das ist leider alles, was ich Ihnen an Informationen liefern kann. Mein Vater ist vor zwei Jahren verstorben. Es würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie etwas über meine Mutter in Erfahrung bringen könnten. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Für Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
RA Dr. Petra Winkler
Winkler & Partner, Rechtsanwälte in München
Senden.
Epilog
Während Petra jeder E-Mail von loc@search-of-clues.net entgegen fiebert, wird sie mit einem Leserbrief in den großen Zeitungen für eine Sammelklage gegen Snapshot mobil machen. Es kommt ihr zupass, dass bei Snapshot bereits ein anderes Verfahren wegen Verletzung des Jugendschutzes anhängig ist, bei dem es um sexuell anstößige Inhalte geht. Das wundert sie nicht.
Ann-Katrin wird sich das abgelegte Handy einer Freundin krallen und fortan über Prepaid-Karten snapshottet, die sie von ihrem Taschengeld bezahlt. Es dauert lange, bis sie die 500-Blitze-Marke wieder reißt. Ihr Zeugnis spiegelt die Leckt-mich-alle-am-Arsch-Haltung wider, die sie nach den Weihnachtsferien mit erhöhtem Druck an den Tag legt. Petra fürchtet, dass ihre Tochter doch Surflehrerin werden muss.
Zur Sylvester-Party des Hotels wird Paul zwei Cocktails kreieren und sie seinen Töchtern widmen: #Ann-Daiquiri und #Marie-Pirinha. Petra schweigt dazu, weil die Stimmung schlecht genug ist. Die Mädchen erfüllt es hingegen mit Stolz.
In Münchner Szene-Magazinen erscheinen zahlreiche Artikel über den attraktiven #Shaking-Super-Daddy, wodurch die Hotelbar schnell zum In-Treff avanciert. Unzählige Snapshot-Fotos von Paul mit Bargästen kreisen durch das Web. Doch Petra bekommt sie nicht zu sehen, weil die Bilder sich immer wieder selbst zerstören.