Helene-66-Rentnerin
Weiterstadt, 25. September 2012
„Seltsame Leute …“, denkt Helene Tanner als sie die Treppe des Nachbarhauses nach oben steigt. Mit dem Zweitschlüssel öffnet sie die Wohnungstür zu Gerdas Reich.
„Hallo Gerda! Ich bin es, Helene!“
Gerda antwortet nicht. Was sollte sie auch sagen? – Natürlich war es Helene. Niemand außer ihr besaß einen Schlüssel zur Wohnung. Nicht mal Jonas, der Großneffe aus München, mit dem Gerda hin und wieder telefonierte. Zu Besuch kam Jonas nie.
„Er wird erst hier aufkreuzen, wenn es etwas zu erben gibt. … Vielleicht kann man ja auch Beerdigungen schon über das Internet abwickeln? … Mit Freischalt-Code für ein Urnengrab und so …“
Helene grinst bei dieser Vorstellung. Aber nein, sicher würde Jonas Helene bitten, auch das für ihn zu erledigen. Gegen Geld, versteht sich. Warum auch nicht? Solange der Preis stimmte, war es Helene recht. Was Beerdigungen anging, hatte sie immerhin Erfahrung: erst ihr Vater, kurz darauf ihre Mutter und zwei Jahre später ihr Mann. Viel zu früh. Sie lagen alle im selben Grab und warteten nur noch auf Helene. Doch sie würden sich noch etwas gedulden müssen.
Helene geht ins Wohnzimmer, wo Gerda Lissmann über der Lehne ihres Massage-Sessels hängt.
„So kann der arme Stuhl seine Arbeit aber nicht machen …“, denkt sie. Die Lindenstraße flackert über den Bildschirm. Ohne Ton. Diese Stille hatte Helene gleich beim Betreten der Wohnung irritiert. Gerda war schwerhörig und stellte den Fernseher immer sehr laut ein. Helene blickt auf den großen Monitor, auf Helga Beimer, Andy Zenker und Lotti Lottmann, wie sie um ihr Überleben in der Nachbarschaft ringen. Sie kann sich den Plott auch ohne Ton zusammenreimen:
„Es ist doch wie im richtigen Leben, nur dass die Lindenstraße in Köln liegt und nicht in Weiterstadt.“
„Hallo Gerda! Warum ist der Ton aus?“
Gerda blickt angestrengt am Fernseher vorbei:
„Scht! Hörst du das auch?“
„Was denn?“
„Das Rumpeln unten in der Wohnung.“
„Achso. Es wundert mich, dass du das hören kannst.“
„Das geht schon seit Stunden so. Was ist denn da los?“
„Die neue Besitzerin deines Hauses zieht gerade mit ihrem Büro ein.“
„Mit ihrem Büro?“
Helene lacht:
„Ja. Sie sieht nicht danach aus, aber das hat sie gesagt.“
Gerda schüttelt den Kopf:
„Gut, dass Albert das nicht mehr miterleben muss.“
„Wer weiß, vielleicht hätte er seine Freude an ihr gehabt. Sie ist ja ganz hübsch anzuschauen.“
Gerda sieht Helene entrüstet an:
„Was du schon wieder denkst. Albert hätte unser Haus im Leben nicht verkauft. Schon gar nicht an eine Polin.“
„Ich glaube, sie kommt aus Russland.“
Von dem tätowierten Eisenmann, den die Russin im Schlepptau hat, erzählt Helene lieber nichts. Der hatte sie nicht einmal gegrüßt.
„Wenn der mit einzieht, dann Gute Nacht! Es wäre Gerdas sicherer Tod. Ihre Nerven liegen seit dem Verkauf des Hauses ohnehin schon blank.“
Helene versucht, ihre erregte Nachbarin vom Rumpeln im Erdgeschoss abzulenken:
„Ich habe uns eine Hühnersuppe gekocht. Soll ich die mal aufwärmen? Du hast sicher noch nichts Warmes gegessen heute.“
Gerda lässt sich missmutig in den Sessel zurücksinken – bereit, das Thema zu wechseln:
„Doch, Brot.“
„Mit was?“
„Nur Brot.“
„Ich habe dir doch die Fleischwurst mitgebracht, die du so magst.“
„Die schmeckt nicht mehr so gut wie früher.“
„Früher? … Das ist gerade mal eine Woche her, dass sie dir noch geschmeckt hat!“
„Na und? Sie schmeckt trotzdem nicht mehr so gut. Irgendwas haben die am Rezept geändert.“
„Die Fleischwurst ist von Aldi, Gerda. Die ändern sicher nicht dauernd das Rezept.“
„Woher willst du das wissen? Die sparen garantiert, wo sie können.“
„Ich denke nicht, dass es da noch viel zu sparen gibt.“
Mit diesen Worten verzieht sich Helene in die Küche: Es wurde wirklich immer schlimmer mit Gerda. Seit Wochen baute sie ab und grantelte herum.
***
Früher hatte man Gerda oft im Garten gesehen, bei ihren Blumen- und Gemüsebeeten. Gerda liebte ihren Garten über alles. Jedes Pflänzchen, das hier wuchs, kannte Gerda beim Namen, und es saß nichts zufällig an seinem Platz.
Seit über einem Jahr verließ Gerda ohne Helene die Wohnung nicht mehr. Innerhalb der Wohnung stützte sie sich beim Gehen auf einen Gehstock und wenn sie zur Bank mussten, schob Gerda einen Rollator vor sich her, was sie als zutiefst entwürdigend empfand. Folglich bewegte sie sich kaum noch. Gerda entwickelte sich zurück.
Sie war jetzt neunzig, 24 Jahre älter als Helene und genauso alt wie Helenes Mutter heute wäre, würde sie noch leben. Gerda und Albert Lissmann hatten eines der schönsten Häuser in der Straße gebaut: mit einem großen Garten rund um das Haus, einer stattlichen Südterrasse und zwei schmiedeeisernen Balkonen – einen am geplanten Kinder- und späteren Arbeitszimmer, und einen Richtung Osten, wo die Sonne morgens ins Schlafzimmer schien.
Albert Lissmann hatte hart schuften müssen für dieses Haus. Nach dem Krieg war er am Wiederaufbau des Pharma-Unternehmens beteiligt gewesen, in dem er schon zur Lehre gegangen war. Dass er während des Zweiten Weltkriegs die Zwangsarbeiter aus Osteuropa befehligt hatte, schien niemanden zu stören. Gemeinsam überlebten sie 1944 den schweren Luftangriff, der große Teile des Betriebs zerstörte. Als Rentner hätte sich Albert zu Tode gelangweilt, wäre er nicht vorher seinem heimlich gezüchteten Lungen-Ephysem erlegen. Dabei hatte es nur ein Routine-Eingriff an der Prostata werden sollen. Albert wachte aus der Narkose nicht mehr auf.
Seither lebte Gerda allein im Haus. Als sie die Gartenpflege nicht mehr bewältigen konnte, baute sie das Einfamilienhaus in zwei Wohnungen um und bezog die obere Etage. Das Erdgeschoss vermietete sie an ein junges Ehepaar, das bald Nachwuchs zeugte. Die Vermietung brachte Gerda einen hübschen Nebenverdienst zu Alberts üppiger Rente ein. Und eine Menge Lärm. Nicht nur sie, sondern auch die Pflanzen litten unter den Kindern. Trotz allem ging es Gerda gut. Ihr war es noch nie schlecht gegangen. Selbst im Krieg hatte sie auf dem Land nie Hunger leiden müssen. Gerda konnte sich also wirklich nicht beklagen.
Dann war das Dach marode geworden. Als Gerda es neu decken ließ, stießen sie auf den Asbest in der Fassaden-Verkleidung. Die junge Familie suchte sofort das Weite. Und da Gerda keine Lust auf eine Grundsanierung hatte, stand das Erdgeschoss seitdem leer. Helene bezweifelte, dass Jonas Lissmann beim Verkauf des Hauses auch nur ein Sterbenswörtchen über den Asbest verloren hatte. Wenn sie an Gerdas hohes Alter und ihre robuste Gesundheit dachte, plagten Helene wenig Bedenken, täglich ein bis zwei Stunden in diesem Haus zu verbringen – solange der Preis stimmte.
Der Preis war für Helene immer das Wichtigste. Das hatte sie von ihrer Mutter Marlies gelernt, die einer Gutsherren-Dynastie aus Pommern entstammte. In den letzten Kriegstagen hatte Marlies den gesamten Familienbesitzes gegen Essen eingetauscht, damit in ihrem Dorf keiner verhungern musste.
Wenn Helenes Mutter ihre Zuhörer in demütiges Schweigen hüllen wollte, erzählte sie die Geschichte ihres Großvaters Karl-Gustav. Der hatte sich als Dorfältester in seiner Scheune erhängt – nicht ohne genaue Instruktionen zu hinterlassen, wie man nach seinem Tode weiter verfahren solle, damit möglichst viele überlebten: Jeweils der Älteste ihm nach, um den jüngeren Dorfbewohnern das wenige Essen zu überlassen, das die Polen ihnen zugestanden.
Als Marlies mitbekam, welche Tragödie sich bei ihr zuhause abspielte, schmuggelte sie alles, womit sich ein guter Preis erzielen ließ, nachts unter dem Beschuss der Alliierten über die Demarkationslinie und tauschte es gegen Lebensmittel ein. Im russischen Lazareth, wo man sie als gelernte Krankenschwester gut brauchen konnte, fanden sich immer zahlungskräftige Abnehmer. Dabei hatten die Russen selbst veranlasst, dass Marlies’ Dorf von den Polen ausgehungert wurde.
Das war die Geschichte von Großvater Karl-Gustav. Wenn Marlies sie zu Ende erzählt hatte, herrschte entsetzte Stille im Raum. Da konnte man einen Zahnstocher auf dem Teppich aufschlagen hören. Danach war niemand mehr fähig, sich in Marlies’ Gesellschaft ungehemmt satt zu essen, geschweige denn etwas auf dem Teller zurückgehen zu lassen. Danach wusste jeder, wie gut es ihm ging.
Nein, Gerda und Albert hatten in ihrem Leben nie wirklich Not gelitten. Da hatten Helene und Bruno schon härtere Zeiten hinter sich: als Bruno mit 59 in den Vorruhestand geschickt wurde, weil sein Betrieb sich mal wieder restrukturierte. Einfach ausgemustert hatten sie den armen Kerl. Neue Computer erledigten seine Arbeit angeblich besser. Sie brauchten junge Leute, die diese Computer bedienen konnten.
Bruno kam mit dieser Ausmusterung nicht gut zurecht. Sein halbes Leben hatte er diesem verdammten Betrieb gewidmet und plötzlich sollte das nichts mehr wert sein? Auf ihrem Haus lag eine Hypothek zu hohen Zinsen. Die Immobilie fraß ihnen die Haare vom Kopf. Doch sie war das Einzige, was sie ihrer Tochter einmal würden vererben können. Ein Studium konnten sie deshalb nicht finanzieren. Helene und Bruno schafften es kaum, Sandra das Semesterticket zu bezahlen, damit sie ab und zu mal den Weg nachhause fände. Fand sie aber nicht.
Wenn Helene daran dachte, wurde sie zornig. Sandra hätte während des Studiums noch gut zuhause wohnen und essen können. Doch ihre Tochter hatte es vorgezogen, mit anderen Studentinnen und Studenten in einer heruntergekommenen WG zu hausen. Sie war stur. Auch, was das Studium anging. Bruno hatte immer gepredigt, sie solle lieber irgendwas mit Computern studieren, statt eine brotlose Kunst wie Germanistik. Bruno wusste schließlich, wovon er sprach. Schade, dass er nicht mehr miterleben konnte, wie Sandra nach dem Studium in einem Software-Konzern als #Content-Managerin anheuerte. Was auch immer das heißen mochte. Immerhin: Sie war Managerin. Damit hatte sich das Studium wohl ausgezahlt. Wenn Sandra von ihrem Job erzählte, verstand Helene kein Wort. Aber es klang wichtig.
***
Helene stellt die Suppe auf den Herd und nimmt ein Paket Nudeln aus Gerdas Küchenschrank. Haltbare Sachen kaufte Helene einmal im Monat für Gerda ein, Frisches einmal die Woche. Sie kippt eine Hand voll Nudeln in die Hühnersuppe und stellt die Packung zurück in den Schrank. Die Nudeln würden zehn Minuten brauchen.
Helene sieht auf die Küchenuhr. Es ist kurz vor acht.
„Kannst du bitte mal zu den Nachrichten umschalten, Gerda?“, ruft sie.
„Nein, kann ich nicht!“
Im Wohnzimmer ist es immer noch ganz still. Gerda scheint noch in ihr Abhör-Manöver vertieft zu sein. Dabei ist der Lieferwagen längst vom Hof gefahren.
„Ach, komm schon, Gerda. Die da unten sind längst wieder weg.“
„Ich weiß. Aber die Fernbedienung ist auch weg.“
Helene verdreht die Augen:
„Jetzt geht das wieder los. Wenn die Sachen nicht genau an ihrem Platz liegen, sind sie für Gerda einfach weg.“
Helene geht ins Wohnzimmer und bemüht sich, das schwarze Ding irgendwo aufzustöbern. Vergeblich. Nach einer Weile brummt Gerda:
„Sag ich doch. Warum glaubst du mir eigentlich nicht?“
Genervt richtet sich Helene hinter dem Zweisitzer auf:
„Wer, außer dir, sollte das Ding verlegt haben, Gerda?“
Gerda grollt beleidigt:
„Jetzt stellst du mich wieder hin, als ob ich blemblem sei.“
„Nein, Gerda, so war das gar nicht gemeint. Ich denke, du bist einfach erschöpft und solltest nach dem Essen gleich ins Bett gehen.“
„Und nun behandelst du mich wieder wie ein kleines Kind.“
Gerda schmollt und Helene geht fluchend zurück in die Küche, die Nudeln kochen seit fünf Minuten.
„Ich schneide die Fleischwurst einfach klein und werfe sie in die Suppe. Das merkt Gerda bestimmt nicht und so muss ich nichts wegwerfen.“
Helene öffnet die Kühlschranktür. Gleich neben der Butter liegt die Fernbedienung. Ratlos schüttelt sie den Kopf und trabt zu Gerda.
„Jetzt schau mal, Gerda, was ich im Kühlschrank gefunden habe.“
Gerda ist verblüfft:
„Was macht die denn im Kühlschrank?“
„Das wüsste ich auch zu gerne. – Ach, Gerda! Was soll ich denn bloß mit dir machen?“
„Ist mir egal, aber nicht ins Heim. Ich will in meinem Haus bleiben.“
Helene sieht Gerda voller Mitgefühl an:
„Das ist nicht mehr dein Haus. Schon vergessen?“
„Wie könnte ich?“
„Was, wenn es vielleicht nicht anders geht, Gerda?“
„Sieh mich gefälligst nicht so an! Das kann ich nicht leiden. Ich bleibe hier und damit basta. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich will hier nicht mehr weg.“
„Ich tue ja, was in meiner Macht steht, Gerda, aber …“
Gerda schnaubt und fällt ihr ins Wort:
„Nein, Helene, das glaube ich nicht.“
Jetzt ist Helene beleidigt:
„Was, bitte schön, soll das denn heißen?“
„Wenn du mir wirklich etwas Gutes tun wolltest, könntest du mich einfach in Ruhe hier sterben lassen und mich dann in meinem Garten verbuddeln – gleich hinter den Rhododendron-Büschen vor der Mauer. Dort habe ich schon unsere Katzen begraben. Der Rhododendron braucht viel Torf. Deshalb ist die Erde dort schön locker. Da würde mich sicher niemand finden.“
Helene lacht schallend:
„Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen, Gerda? Warum sollte ich dich im Garten verscharren? Ich bin doch keine Serienkillerin.“
Gerda legt den Kopf schief:
„Weil du dann meine Rente weiter beziehen könntest? Die ist nämlich ganz komfortabel.“
Helene ist überzeugt, dass Gerda einen Scherz macht.
„Also wirklich, Gerda! Du willst doch nicht, dass ich im Weiterstädter Gefängnis lande?“
Die alte Dame gluckst belustigt:
„Dann blieben wir wenigstens Nachbarn. Ist doch ganz schön so.“
„Sehr komisch, Gerda. Was ist nur los mit dir?“
Gerda seufzt:
„Ach, Helene! Ich weiß doch, dass du mit der Rente von Bruno kaum über die Runden kommst. Ich weiß auch, dass dir Jonas vom Geld meines Hauses nicht das bezahlt, was du verdient hättest. Er behält das Geld lieber für sich und denkt ohnehin, dass meine Rente für mich ausreicht. Ganz sicher wird er keinen Cent für ein ordentliches Heim verschwenden. Es läuft doch auch so.“
Helene ist verblüfft. Gerda hatte Recht: Eigentlich sollte sie mehr Geld verlangen. Jonas kümmerte sich schließlich um gar nichts. Gerda nutzt die Gunst des Moments und referiert einfach weiter:
„Und wenn wir mal ehrlich sind, gibt es auch keinen nachvollziehbaren Grund, warum ich so viel mehr Rente bekomme als du. Bloß weil mein Mann ein höheres Tier war als deiner? Du und ich, wir haben beide nie gearbeitet, aber du hast wenigstens eine Tochter großgezogen. Ich nur drei Katzen.“
Gerdas Kopf schien viel besser zu funktionieren als Helene vermutete. Natürlich ärgert sich auch Helene oft über diese Ungerechtigkeit. Doch niemals hätte sie es gewagt, ihre Gedanken offen auszusprechen. Dass Gerda nun zum gleichen Ergebnis kam wie sie, wäre ihr im Traum nicht eingefallen.
„Damit hast du schon Recht, Gerda. Aber daran können wir nun mal nichts ändern.“
Gerda lächelt verschmitzt:
„Und wenn doch?“
Helene weiß nicht, was sie darauf erwidern soll.
„Was meinst du damit?“
Gerda schaltet den Fernseher mit der Fernbedienung aus.
„Setz dich mal da hin, Helene.“
Sie deutet auf das Sofa, doch Helene reißt die Hände nach oben:
„Mein Gott, die Suppe!“
Sie rennt in die Küche und zieht den Topf vom Herd, in dem sich kaum noch Wasser befindet. Dafür ein Klumpen matschiger Nudeln mit aufgedunsener Fleischwurst. Sie schimpft:
„Jetzt ist mir auch noch die Suppe verkocht!“
Gerda winkt ab und ruft:
„Lass doch mal die blöde Suppe sein und setz dich hin.“
Als Helene endlich auf dem Sofa sitz, lehnt Gerda sich in ihrem Sessel zurück und schaltet die Massage-Funktion ein.
„Also, mal angenommen, du tust, was ich dir sage …“
Helene will ihr ins Wort fallen, doch Gerda hebt die Hand und bedeutet ihr zu warten:
„Mal angenommen, ich sterbe bald und du tust, was ich dir sage. Dann könntest du einfach meine Rente weiter beziehen bis ich – sagen wir mal – hundert bin. Ich habe in meinem ganzen Leben vielleicht zweimal einen Arzt gebraucht. Es wird also keinem etwas dabei einfallen, wenn ich hier noch eine Weile still vor mich hinlebe, obwohl ich längst unter der Erde bin. Und da ich ja langsam dement werde, kannst du kurz vor meinem 100. Geburtstag einfach behaupten, ich sei weggelaufen. Das hört man doch alle Tage. Bis dahin beziehst du einfach jeden Monat meine 3.100 Euro gesetzliche Rente plus 1.700 Euro Betriebsrente von Albert zu deiner eigenen Rente dazu. Das macht im Jahr, …“
Helene kann jetzt nicht mehr an sich halten:
„Was hast du nur dauernd mit deinem Hundertsten?“
Gerda hebt verwundert die Augenbrauen:
„Na, an meinem Hundertsten kommt der Bürgermeister wieder zum Gratulieren, du Dummerchen. Und den Pfarrer bringt er sicher auch gleich mit. Genau wie an meinem Neunzigsten.“
„Ach, stimmt.“
„Ja! Jedenfalls macht das nach Abzug aller Versicherungen und Nebenkosten, warte …“
Gerda rechnet angestrengt:
„… ach, egal. Es sollte auf jeden Fall dicke reichen, um dein Haus zu halten. Es wäre doch wirklich schade um die gute Rente von Albert. Unsere Ersparnisse bekommt Jonas. Das ist in unserem Testament leider so festgelegt und lässt sich nicht mehr ändern. Das macht dich aber auch weniger verdächtig.“
Helene wird es schwindelig von Gerdas Rechenübungen. Sie feixt:
„Das rentiert sich für mich aber nur, wenn du bald stirbst, Gerda.“
Gerda blickt ihr ernst in die Augen:
„Keine Sorge, das habe ich auch vor, meine Liebe.“
Bei diesem Satz gefriert Helene das Blut in den Adern:
„Was sagst du da? Was genau hast du vor, Gerda?“
„Nichts Besonderes, außer zu sterben. Und zwar bald. 90 Jahre reichen doch. Was ist denn das noch für ein Leben?“
„Du willst dir doch hoffentlich nichts antun, Gerda?“
Gerda lacht kehlig:
„Nein, Kindchen, sicher nicht. Aber das muss ich auch gar nicht. Das macht mein Körper ganz alleine. Ich spüre es. Er wird nicht mehr lange durchhalten. Beim Kopf fängt es ja meistens an.“
Helene ist immer noch schockiert:
„Langsam wirst du mir unheimlich, Gerda.“
„Ach was! Komm erst mal in mein Alter, dann weißt du, was ich meine.“
Ungläubig schüttelt Helene den Kopf:
„Gerda, Gerda, …“
Doch Gerda lächelt nur:
„Denk einfach mal drüber nach, Helene. Aber lass dir nicht allzu viel Zeit. Und noch eins: Ich will nicht, dass die Russin meine ganzen Sachen hier einkassiert. Jonas wird sicher nichts davon wollen.“
Wenigstens darin waren sie sich einig: Nicht die Russin!
In den folgenden Tagen beobachteten sie die Russin, die vormittags mit dem Auto in den Hof fuhr, mehrere Pakete und Kühltaschen auslud und ins Erdgeschoss trug. Den Eisenmann brachte sie nicht wieder mit. Manchmal nahm Helene Pakete für die Russin entgegen und stellte sie vor deren Wohnungstür ab. Die Absender waren im Wesentlichen Versandhäuser für Bürobedarf. Am frühen Nachmittag verschwand die neue Nachbarin meistens wieder – den Kofferraum voller Päckchen und Umschläge. Gerda hatte Alberts Feldstecher ausgegraben, doch viel mehr sehen konnte sie damit auch nicht. So blieb es weiter im Unklaren, was die Russin im Erdgeschoss trieb.
Nach einer Woche greift Helene das Gespräch wieder auf:
„Nur mal angenommen, deine Rechnung ginge auf, Gerda.“
„Na endlich, Helene, ich dachte schon, du willst kneifen!“
Gerda steht mit Alberts Feldstecher hinter der Gardine, damit die Russin sie nicht sehen kann.
„Ich sagte, nur mal angenommen …“, fährt Helene fort. „Wie sollte ich deiner Meinung nach an deine Rente kommen? Einmal im Monat gehen wir gemeinsam zur Bank, damit du Geld abheben kannst. Ich habe übrigens keine Ahnung, wie viel das ist. Die werden doch stutzig, wenn ich plötzlich nur noch alleine dort auftauche.“
Gerda lässt die Russin nicht aus den Augen:
„Ich hebe monatlich ungefähr Zweidrittel der Rente ab. Vom Rest nehmen sich die Versicherungen, die Stadtwerke, die GEZ, die Telekom, die Bank und alle anderen Halsabschneider, was sie für richtig halten. Ich prüfe das nie nach.“
Helene überschlägt das schnell im Kopf:
„Und was machst du mit dem ganzen Geld, das du abhebst?“
„Ich gebe dir was zum Einkaufen.“
„Das sind 300 Euro, Gerda. Da bleibt noch eine Menge übrig.“
„Stimmt. Der Rest liegt im Arbeitszimmer. Da hat Albert vor vielen Jahren einen Tresor einbauen lassen.“
Helene ist fassungslos:
„Was sagst du da?“
Gerda lacht:
„Nicht nur als Scheine, natürlich, sondern als Barren. Immer, wenn es gereicht hat, habe ich ein bisschen Gold gekauft. Hast du gar nicht mitbekommen – was?“
Helene reißt die Augen noch weiter auf:
„Nein. Warum hast du es nicht auf der Bank gelassen? Da ist es doch viel sicherer.“
Gerda schnaubt verächtlich:
„Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Das sind doch die schlimmsten Verbrecher überhaupt. Ich habe schon mal eine Inflation miterlebt, Schätzchen. Glaub mir: Hier bei mir ist das Zeug besser aufgehoben. Außerdem kaufe ich es nicht über die Bank, du Dummerchen. Das brauchen die gar nicht zu wissen.“
„Sondern?“
„Ich bestelle es telefonisch. Das bringt dann ein Kurier.“
Helene überlegt:
„Bist du deshalb nicht mehr aus dem Haus gegangen?“
Gerda zuckt mit den Schultern:
„Vielleicht.“
Sie grinst:
„Willst du es mal sehen?“
Helene schüttelt den Kopf:
„Lieber nicht!“
Andächtig schweigen sie eine Weile und denken an das Gold, das Helene sich nur vage vorstellen kann: Wie viele Barren sich da wohl angesammelt hatten? Dann erinnert sie sich an ihre Ausgangsfrage:
„Also, Gerda, wie sollte ich deiner Meinung nach alleine an deine Rente kommen, wenn du tot bist?“
Gerda stellt das Fernglas beiseite und notiert etwas auf einem Zettel, der auf der Fensterbank liegt. Nebenbei erklärt sie:
„Bankautomaten? Oder Sachen auf meinen Namen im Internet bestellen und online bezahlen. Mit sowas solltest du dich besser auskennen als ich. Du bist doch noch so jung, Helene.“
„Das hast du dir ja alles gründlich überlegt … Nur leider ohne mich.“
„Mensch, Helene, Warum bist du nur so schwer von Begriff? Ich habe von diesem ganzen Zeug natürlich keine Ahnung, aber du solltest es. So viel ich weiß, braucht man nur eine Karte von der Bank und einen Computer dazu. Im Fernsehen gab es neulich einen Bericht von der Stiftung Warentest. Da habe ich gesehen, dass auch meine Bank das kostenlos anbietet. Diese EC-Karte und irgendeine Kreditkarte, die ich noch nie benutzt habe, liegen da drüben in der Schublade. Für das Online-Banking brauchst du nur ein paar Zahlencodes. Wir können uns beim nächsten Bankbesuch mal schlau machen. Ich wüsste nicht, wen ich sonst fragen sollte.“
Helene kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Doch dann hat sie eine Idee:
„Ich könnte Sandra bitten, es mir zu erklären.
Sie denkt an #Software und #Content und ist sich dann doch nicht mehr so sicher. Gerda schon:
„Prima. So machen wir es. Du fragst Sandra. Vielleicht kann sie dir auch helfen, einen Computer zu besorgen. Den brauchen wir auf jeden Fall. Aber macht es bald. Ich habe nicht ewig Zeit.“
Damit sieht Gerda das Gespräch ihrerseits als beendet an. Nun ist der Ball bei Helene. Gerda wendet sich wieder ihrem Zettel zu:
„Heute waren es nur 44 Päckchen und 37 Umschläge, wenn ich richtig mitgezählt habe. Weniger als gestern.“
Helene schüttelt den Kopf.
„Über was reden wir hier eigentlich?“
Am darauffolgenden Freitag machen sich Helene und Gerda mit dem Rollator auf den Weg zur Bank. Den größeren Teil der Strecke fahren sie mit dem Bus. Gerda hat vorher einen Termin vereinbart, worüber sich die Bankangestellte zu freuen scheint:
„Das ist aber schön, liebe Frau Lissmann, dass wir uns mal persönlich kennenlernen.“
„Das freut mich auch, liebe Frau … wie war ihr Name?“
„Zellweg“, flüstert Helene ihr zu.
„Wie die Schauspielerin?“, fragt Gerda zurück.
Die Bankangestellte, eine schlanke Frau mit Knoten im Nacken und schwarzem Kostüm, lächelt verständnisvoll:
„Nein, nicht wie die Schauspielerin. Die heißt #Zellweger. #Renee-Zellweger. Aber kein Problem, das passiert mir öfter.“
Gerda legt den Kopf schief:
„Ach wirklich?“
Die Bankangestellte führt die Damen in ein Büro, wo Helene sich um Gerdas Rollator kümmert. Gerda hat es sich bereits auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch bequem gemacht. Frau Zellweg tippelt auf ihren Pfennig-Absätzen um den Tisch herum und nimmt auf ihrem Drehstuhl Platz, wo sie sich gleich in den Computer einloggt. Nach einem Blick auf den Bildschirm, wendet sie sich ihren Besucherinnen wieder zu:
„Sie hatten um einen Termin gebeten, Frau Lissmann. Das ist schön. Denn wenn Sie es nicht getan hätten, wäre ich auf Sie zugekommen.“
Gerda sieht sie erstaunt an:
„Ach ja?“
„Ja, Frau Lissmann. Ich wollte auch mit Ihnen sprechen. Insofern trifft sich das sehr gut. Aber nun erst einmal zu Ihrem Anliegen.“
Sie nickt Gerda aufmunternd zu. Gerda rutscht aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her.
„Ja, also, Frau Zellweger, …“
„Zellweg“, soufliert Helene.
Gerda scheint überrascht:
„Nicht wie die Schauspielerin?“
Auch die Bankangestellte sieht Helene fragend an. Deren Stresspegel steigt merklich an:
„Was ist heute nur los mit Gerda? Hätte ich gewusst, wie negativ sich dieses Abenteuer auf ihr Gedächtnis auswirkt, wären wir besser zuhause geblieben. Aber leider hat Sandra vor November keine Zeit.“
Gerda wird langsam ungeduldig:
„Ist was?“
Helene streichelt ihr sanft über den Arm:
„Nein, Gerda. Es ist alles in Ordnung. Möchtest du Frau ZELLWEG jetzt fragen, weshalb du hergekommen bist?“
Wieder wirkt Gerda höchst erstaunt:
„Ja, weiß sie denn, warum ich hergekommen bin? Ich weiß es nämlich gerade nicht mehr.“
Frau Zellweg sitzt kerzengerade hinter ihrem Schreibtisch. Sie hat die Hände auf der Tischplatte liegen und lächelt Gerda unverändert an.
„Als sei ihr Gesicht eingefroren …“, denkt Helene und registriert, wie der Kuli in Frau Zellwegs Händen nervös auf und ab wippt. Deshalb beschließt sie, Gerda ein Stichwort zu geben:
„Bankautomaten. … Online-Banking.“
Ein Leuchten flackert durch Gerdas Augen:
„Ach ja, richtig, also, Frau Zellweger, …“
Diesmal reagiert keine der beiden anderen Frauen, deshalb macht Gerda einfach weiter:
„Ich würde gern wissen, wie das mit dem Online-Banking und den Geldautomaten funktioniert. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß, wie Sie sehen. Ich möchte Frau Tanner nicht noch mehr Arbeit aufhalsen als nötig, sondern alle Überweisungen von zuhause mit dem Computer erledigen. Helene Tanner soll eine Vollmacht erhalten, damit sie auch ohne mich herkommen und Geld abheben kann.“
Die Bankangestellte nickt:
„Das ist sicher eine gute Lösung, Frau Lissmann. Meine Kollegen haben mir schon erzählt, wie liebenswürdig Frau Tanner Ihnen bei allem behilflich ist. Sie begleitet Sie ja schon seit vielen Monaten zur Bank. Und es ist auch gar nicht so schwierig.“
Frau Zellweg setzt ihr mitfühlendes Alte-Leute-Gesicht auf:
„Erst mal füllen wir zusammen das Vollmachtsformular aus. Es erspart uns allen viel Zeit, dass wir das hier am Tisch erledigen können, statt online mit PostIdent und so.“
Gerda und Helene blicken sich ratlos an. Doch Frau Zellweg lächelt beschwichtigend:
„Vergessen Sie das Letzte einfach wieder. Ist nicht so wichtig. Haben Sie Ihren Personalausweis dabei, Frau Tanner? Den brauchen wir.“
Helene nickt und holt ihn aus ihrer Handtasche. Sonst hatte sie immer nur eine Kopie davon im Portemonnaie. Frau Zellweg nimmt ihn ihr ab:
„Sehr schön. Oh, das ist aber ein hübsches Foto von Ihnen, Frau Tanner. Ich lasse mal schnell das Formular aufsetzen. Währenddessen können wir uns gern weiter unterhalten. Kleinen Moment bitte.“
Frau Zellweg drückt eine Taste ihres Telefons und bittet einen Auszubildenden zu sich ins Büro. Der junge Mann im blauen Anzug zieht mit Helenes Ausweis und Frau Zellwegs Anweisungen sofort wieder los.
„Nun zum Bankautomaten. Dafür brauchen wir zunächst mal Ihre EC-Karte, Frau Lissmann.“
Helene holt auch diese aus ihrer Handtasche. Frau Zellweg lächelt anerkennend:
„Sie haben an alles gedacht. Wunderbar. Dann gehen wir gleich nach vorne zum Automaten und ich zeige Ihnen, wie das alles funktioniert. Sie müssen nur Ihre PIN eingeben.“
Sie will schon aufstehen, doch Gerda und Helene sehen sich wieder fragend an. Deshalb bleibt sie sitzen, um es ihnen zu erklären:
„Die PIN ist eine 4-stellige Zahl, die Sie getrennt von Ihrer EC-Karte mit der Post erhalten haben. Können Sie sich an das Schreiben erinnern?“
Komischerweise wendet sich Frau Zellweg mit ihrer Frage direkt an Helene. Weil auch Gerda sie hilfesuchend anschaut, antwortet Helene für Gerda:
„Wann genau war denn das?“
Frau Zellweg wirft einen Blick auf ihren Monitor:
„Vor zweieinhalb Jahren.“
Helene blickt zu Gerda, doch die hebt nur die Schultern:
„Ich kann mich an nix erinnern. Sicher hast du den Brief aufgemacht. Du liest mir die Post ja meistens vor.“
„Aber Gerda, ich kümmere mich doch noch gar nicht so lange um deine Post. Erst seit gut einem Jahr.“
Gerda scheint das zu verwirren:
„Ach, nein? Wer hat das denn vor dir gemacht?“
Helene überlegt, ob es nicht doch sinnvoller wäre, das Ganze auf einen anderen Tag zu verschieben? Sobald es Gerda wieder besser ginge, könnten sie einen neuen Versuch unternehmen.
„Vor mir hast du das alles alleine gemacht, Gerda.“
„Ach so? Dann muss der Brief ja noch irgendwo sein.“
Um Zeit zu sparen, winkt Frau Zellweg ab:
„Wissen Sie was? Wir bestellen einfach eine neue Karte mit einer neuen PIN für Sie.“
Sie zitiert ihren Auszubildenden wieder ins Büro, der auch noch die EC-Karte mitnimmt.
„Das Online-Banking beantrage ich jetzt hier in meinem System für Sie. Bis Herr Terwald zurück ist, würde ich gerne noch über etwas anderes mit Ihnen sprechen, Frau Lissmann.“
„So? Worüber denn?“
„Sie haben zurzeit eine Menge Geld auf dem Girokonto.“
„Ach wirklich? Wie viel denn?“, fragt Gerda erstaunt.
Gerda lächelt die Bankangestellte an, die verunsichert wirkt.
„Keine Sorge, Frau Tanner genießt mein vollstes Vertrauen.“
„Na gut. Das Guthaben beläuft sich derzeit auf 183.421 Euro, 27 Cent. Den Rest hat ihr Mann ja in Aktien investiert. Das fassen Sie besser nicht an. Der Aktienmarkt ist gerade dabei, sich etwas zu erholen.“
Helene schluckt und Gerda scheint zu überlegen:
„Sie meinen also, das ist zu viel fürs Konto?“
Frau Zellweg lacht:
„Nun, viel ist relativ. Sagen wir mal so: Es ist genug, um über lukrativere Anlageformen nachzudenken. Auf dem Girokonto bringt es Ihnen bei den aktuellen Zinsen nichts ein. Und Sie wollen ja sicher, dass es noch mehr Geld wird.“
Frau Zellweg zwinkert Gerda verschwörerisch zu, doch Gerda winkt ab:
„Ach wo. Ich will gar nicht, dass es noch mehr Geld wird.“
Die Bankangestellte vermutet, dass Gerda sie falsch verstanden hat.
„Was ich sagen will, Frau Lissmann, im Moment erhalten Sie quasi gar keine Zinsen für Ihr Erspartes. Ich hätte aber interessante Angebote, wie es mit bis zu drei Prozent verzinst werden würde. Vielleicht sogar mehr, wenn sich der Markt gut entwickelt.“
Gerdas Blick verfinstert sich. Sie wendet sich an Helene:
„Kannst du der Frau bitte erklären, dass ich keine höheren Zinsen will, egal wie sich der Markt entwickelt?“
Helene schielt verlegen zu Frau Zellweg hinüber:
„Sie haben es ja gehört.“
Frau Zellweg will Gerda noch nicht von der Angel lassen:
„Ich meine …“
Da fällt Gerda ihr barsch ins Wort:
„Können wir uns jetzt bitte wieder um das Online-Banking und den Bankautomaten kümmern? Das Ganze regt mich nämlich langsam auf und das ist nicht gut für meinen Blutdruck, wissen Sie?“
Frau Zellweg ist betroffen über diese heftige Reaktion. Sie atmet tief durch. Dann greift sie zum Telefonhörer und fragt, wie weit die Formulare sind.
Nachdem Helene und Gerda die Bank verlassen haben, schweigen beide eine Weile. Die Vollmacht ist eingerichtet, die neue EC-Karte beantragt und das Online-Banking freigeschaltet. In den nächsten Tagen würde Gerda vier Briefe erhalten: einen mit der neuen EC-Karte, einen mit einer 4-stelligen PIN für die neue EC-Karte, einen mit einer 6-stelligen PIN für das Online-Banking und einen mit der TAN-Liste. Helene hofft, dass sie sich das alles merken kann. Wenn alle Briefe da waren, würden sie und Gerda sich von Herrn Terwald noch einmal alles ausführlich erklären lassen.
Helene hat es nicht eilig, nachhause zu kommen. Sie braucht frische Luft und Bewegung, um das Adrenalin abzubauen, das sich während des Termins in ihrem Körper angestaut hat. Sie überredet Gerda, zwei Stationen früher aus dem Bus auszusteigen und den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Gerda murrt, tut ihr aber den Gefallen. Sie merkt, dass der Vormittag für Helene eine Zumutung war. Helene lotst Gerda an den Vorgärten vorbei, wo sich der Herbst mit seinen Rot- und Ocker-Tönen ausbreitet. Das erste Laub fällt bereits von den Bäumen. Die Farben der Hortensien-Köpfe changieren von Hellbeige bis Zyklam und von Grün bis Violett. So kurz vor dem Verwelken mag Helene sie am liebsten. Nur Gerdas welkender Kopf bereitet ihr Sorgen:
„Heute ist wirklich ein besonders schlechter Tag. Warum bin ich nur auf diese gruselige Schnapsidee eingegangen? Das wird Gerda nervlich nicht durchstehen. Und ich bestimmt auch nicht. Zum Glück habe ich Gerda noch nichts versprochen …“, grübelt Helene vor sich hin.
„Was ist los mit dir, Helene? Du bist so schweigsam. Willst du mich vielleicht den ganzen Tag mit dem Rollator durch Weiterstadt eiern lassen? Es ist doch alles gut gelaufen.“
„Findest du? Ich hatte nicht den Eindruck, dass du voll auf der Höhe warst, Gerda.“
Gerda grinst:
„Wenn die Bankangestellte den gleichen Eindruck hatte wie du, ist ja alles bestens.“
Helene bleibt stehen und sieht sie kopfschüttelnd an:
„Manchmal frage ich mich, ob du noch weißt, was du sagst.“
„Ach, Helene, ich weiß vielleicht nicht immer, was ich tue, aber ich weiß immer noch genau, was ich sage. Das kannst du mir wirklich glauben.“
Helene sieht sie skeptisch an:
„Und ich sage nur ZELLWEGER.“
Gerda beginnt zu lachen. So vergnügt hat Helene sie noch nie erlebt.
„Das war gut, oder? Hast du gesehen, wie sie geguckt hat? Vor allem bei der Sache mit dem Geld: die unerwünschte Vermehrung meines Vermögens. Vor ein paar Jahren wollten die mir schon mal diese neuen Aktien andrehen. Stell dir nur mal vor, was ich da verloren hätte! Da bin ich mit meinem Gold zehnmal besser bedient.“
Helene ist erstaunt:
„Dann hast du das alles nur gespielt, Gerda?“
„Natürlich, was denkst du denn?“
„Aber warum hast du mich nicht vorgewarnt?“
„Dann wären deine Reaktionen nicht so echt gewesen. So wird es für dich später umso leichter sein, mein Verschwinden zu erklären.“
Nachdenklich schiebt Gerda hinterher:
„Es war mir aber nicht bewusst, dass sich da inzwischen wieder so viel Geld angesammelt hat. Vielleicht sollten wir eine Wohnung kaufen. Immobilien sind doch immer noch die beste Geldanlage. Was hältst du davon, Helene? Gibt es einen Ort, wo es dir besonders gut gefällt? Österreich, Italien? In Griechenland ist es jetzt sicher sehr günstig.“
Sie kichert, doch Helene weiß nicht, was sie daran komisch finden soll:
„Hast du nicht gesagt, es sei weniger verdächtig, wenn Jonas das gesamte Vermögen erbt?“
„Dann erbt er halt eine hübsche Ferienwohnung, die du bis dahin nutzen kannst.“
Das Gespräch treibt Helenes Puls schon wieder nach oben:
„Mein Gott, Gerda, jetzt lass es aber mal gut sein mit deinen wilden Fantasien. Warum hast du das alles nicht schon früher für dich selbst getan – als du es noch konntest?“
Gerda überlegt kurz:
„Ach, weißt du, Helene, ich war mit meinem Haus und meinem Garten und meinen Katzen rundum glücklich. Ich hatte nie Lust zu verreisen oder woanders zu leben als hier.“
Das kann Helene überhaupt nicht verstehen. Was hätte sie dafür gegeben, mit Bruno ein bisschen mehr von der Welt zu sehen als nur den Campingplatz in Pleinfeld, wo sie jeden Sommer mit ihrem Wohnwagen Urlaub machten. Helene sah sich oft Tierfilme an. Wie gern wäre sie mal in einen der Nationalparks nach Afrika geflogen. Oder auf die Galapagos-Inseln, um Pinguine in freier Wildbahn zu beobachten. Oder nach Australien zu den Kängurus. Doch selbst wenn sie das Geld dafür gehabt hätten, wäre Bruno wahrscheinlich immer noch nach Pleinfeld gefahren, wo man deutsch sprach und wo er alles kannte. Mit Bruno wäre sie nicht einmal bis Österreich, Italien oder Griechenland gekommen. Lächelnd schüttelt Helene den Kopf.
„Warum schüttelst du jetzt den Kopf, Helene? – Etwa über mich?“
„Das ist beneidenswert, Gerda. Du hattest die Chance, die Welt zu bereisen, und warst mit Weiterstadt zufrieden.“
„So isses. Aber ich weiß nicht, ob das beneidenswert ist oder einfach nur dämlich.“
Gerda lacht und Helene fragt sich, warum ihre Nachbarin in letzter Zeit so vergnügt ist.
„Jedenfalls fände ich es gut, wenn du mal aus Weiterstadt raus kämest, Helene. Genieße dein Leben – du hast doch noch ein paar gute Jahre vor dir, wenn ich tot bin.“
Helene seufzt:
„Wenn ich sie nicht deinetwegen im Gefängnis verbringe. Zum Glück lebst du ja noch. – Können wir jetzt bitte mal das Thema wechseln?“
„Warum denn? Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken über ungelegte Eier, Helene. Alles wird gut. Weißt du denn nicht: Was nicht sein darf, das nicht sein kann.“
„Sagst du, Gerda! Ich wüsste nicht mal, wie ich dich alleine die Treppe runter in den Garten schleppen sollte, um dich dort zu vergraben.“
Gerda greift nach Helenes Hand und drückt sie fest:
„Das schaffst du schon. Du bist viel stärker als du denkst, Helene. Falls nicht, bittest du die Russin einfach um Hilfe. Dann kriegt sie halt doch meine ganzen Sachen. Was soll’s!“
Helene ist entrüstet:
„Auf gar keinen Fall!“
Die vier Briefe der Bank trafen wie angekündigt ein. Helene notierte sich alles haarklein in einem Notizbuch, was der Auszubildende ihnen über den Automaten und das Online-Banking erzählte. Gerda saß die ganze Zeit unbeteiligt daneben. Beim Test spuckte der Geldautomat die eingegebene Summe anstandslos aus. Ein Grund zum Feieren.
Gerde und Helene köpfen einen teuren Champagner aus Gerdas Keller. Er wartete dort schon sehr lange auf die richtige Gelegenheit.
„Den hat Albert irgendwann mal zu einem Jubiläum von der Firma geschenkt bekommen. Wahrscheinlich für 30 Jahre Totschweigen. Schmeckt aber noch erstaunlich gut für sein Alter …“, meint Gerda.
„Nicht alles wird schlechter mit zunehmendem Alter. Sieh uns an …“, kichert Helene nach dem zweiten Glas.
„Was meinst du mit Totschweigen?“
„Ach nichts. Reden wir lieber über was anderes. Man soll die Toten in Ruhe lassen.“
„Du meinst, ruhen lassen. Apropos: Wir haben noch ein Problem zu lösen, Gerda.“
„Welches?“
„Was soll ich zu Jonas sagen, wenn er mal wieder anruft? Ich meine, wenn du tot bist.“
„Sag ihm einfach, ich sei müde und hätte keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen. Das würde sogar stimmen. – Ach was! Am besten sage ich ihm das noch selbst, damit er es auch glaubt. Das hätte ich ohnehin schon längst tun sollen.“
***
Mitte November kommt Sandra nach Weiterstadt, um den neuen Laptop einzurichten, den sie für Gerda im Internet bestellt hat. Sie hat sich auch um den neuen Telefon-Vertrag mit WLAN gekümmert, wofür Helene ihr sehr dankbar ist. Mutter und Tochter verbringen den ganzen Nachmittag damit, den Computer bei Gerda ans Netz zu bekommen. Dicht nebeneinander brüten sie über dem Laptop und Sandra gibt sich große Mühe, nicht die Geduld mit ihrer Mutter zu verlieren.
„Ich finde es ja sehr gut, Mama, dass du dich endlich mit diesen Dingen auseinandersetzt. Weißt du eigentlich, dass es viele Webseiten gibt, wo man ältere Leute trifft, mit denen man etwas unternehmen kann?“
Helene lächelt ihre Tochter an:
„Ja, davon habe ich gehört. Aber weißt du, ich treffe mich jeden Tag mit älteren Leuten. Auch ohne Internet.“
„Ich spreche nicht von Gerda, Mama, sondern von Leuten in deinem Alter. Gerda ist steinalt.“
„Ich weiß.“
Helene streichelt ihrer Tochter sanft über die Wange, was sie schon lange nicht mehr getan hat. Sie kann sich nicht einmal erinnern, wann zuletzt. Sandra bemüht sich, still zu halten, um Helene nicht zu kränken.
„Ist gut jetzt, Mama. Ich zeige dir noch, wie du E-Mails schreiben und lesen kannst.“
Helene zieht ihre Hand schnell zurück und beide Frauen wenden sich wieder dem Monitor zu.
„Ach, Sandra, das lerne ich doch nie.“
„Klar lernst du das! Es ist ganz einfach. Dann kann ich dir auch E-Mails schicken. Ich telefoniere doch nicht gern. Und ich sende dir einen Link zu meiner Cloud. Da kannst du dir meine Urlaubsfotos ansehen.“
Helene versteht wieder nur ein Drittel, aber die Aussicht spornt sie an.
Einen Tag danach sitzen Gerda und Helene zum ersten Mal allein vor dem Laptop und überlegen angestrengt, was sie bestellen und online bezahlen könnten.
„Lass uns eine Reise im nächsten Sommer für dich buchen!“
Gerda ist begeistert von ihrer Idee, Helene weniger:
„Dann wärst du ja alleine. Nein, das mache ich nicht.“
Gerda droht ihr mit dem Zeigefinger:
„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dir nicht so viele Gedanken machen? Jetzt lass es uns doch wenigstens mal ausprobieren! Wir können ja nur so tun als ob. Also: Wo willst du hinfahren?“
Helene denkt nach:
„Auf die Galapagos-Inseln.“
„Na bitte, geht doch. Jetzt ruf mal diesen Google-Dingens auf und gib das ein.“
Mit großen Augen sieht Helene Gerda an. Sandra hatte ihr das mit Google und dem Internet-Explorer gestern erst erklärt.
„Wieso weiß Gerda darüber Bescheid? …“
Gerda scheint Helenes Gedanken zu erraten:
„Ich bin zwar alte, aber nicht von gestern. Los, nun mach schon!“
Helene ruft Google auf und gibt #auf-die-Galapagos-Inseln-reisen in den Suchschlitz ein. Sie betrachten die Suchergebnisse und erfahren, dass Mai eine gute Reisezeit ist. Nachdem sie auf mehreren Internet-Seiten die Bilder bewundert haben und trotzdem nicht weiter wissen, entscheiden Sie sich für einen bekannten Reise-Anbieter. Gerda und Helene sehen sich die Angebote an und finden ein schönes 4-Sterne-Hotel mit geführten Touren.
„Das sieht doch herrlich aus, findest du nicht, Helene? Vielleicht sollte ich doch mitkommen.“
„Das wäre wunderbar, Gerda. Wenn ich dann unterwegs bin, könntest du dich schön im Hotel entspannen. Mit einem Cocktail am Pool.“
„Klingt doch gut. Klicke da mal auf #weiter.“
Helene lacht:
„Du spinnst, Gerda.“
„Los, mach schon, Helene! Ich will sehen, was dann passiert.“
Sie klickt auf den Button und landet auf einer neuen Seite mit vielen Eingabefeldern.
„Und jetzt?“, fragt Helene.
„Gib halt deinen Namen und deine Adresse ein“, schmunzelt Gerda.
„Ist nicht dein Ernst …“
Helene wird es mulmig.
„Herrgott nochmal, Helene! Soll ich es vielleicht selbst machen?“
Helene schüttelt den Kopf und gibt ihre Daten ein. Da das Reisedatum noch ein Weilchen hin ist, entscheiden sie sich für Kauf auf Rechnung.
„Jetzt noch deine Daten, Gerda. Du bist die Mitreisende.“
„Meinetwegen. Dann gib halt auch noch meine Daten ein.“
Sie kichern. Als sie das letzte Feld ausgefüllt haben, erhalten sie noch einmal einen Überblick über die gesamte Reise. Helene lehnt sich auf dem Stuhl zurück und lächelt:
„Schau mal, Gerda: Da stehen jetzt unsere beide Namen. Ist gar nicht so schwierig, wie ich gedacht hatte.“
„Stimmt“, pflichtet Gerda ihr bei, schnappt sich die Maus und klickt auf #kostenpflichtig-bestellen.
„Was hast du gemacht, Gerda?“, schreit Helene sie an.
„Nägel mit Köpfen, Liebes.“
Gleich darauf finden Sie die Buchungsbestätigung im E-Mail-Postfach: Eine Reise für zwei Personen im Doppelzimmer vom 11. bis zum 25. Mai 2013. Die Rechnung ist im Anhang. Alle Reisunterlagen sollen direkt nach Zahlungseingang folgen.
„Wir sind verrückt, Gerda. – Du bist verrückt!“
„Ach, Helene! Ich denke, wir waren bisher einfach nur viel zu brav.“
„Was passiert, wenn wir jetzt nicht bezahlen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht wandern wir dann zusammen ins Gefängnis. Deshalb bezahlen wir jetzt lieber. Du hast ja genau mitgeschrieben, wie es geht. Und stand da nicht was von Stornofristen? Das können wir ja noch einmal nachlesen.“
Mit großer Sorgfalt nimmt Helene ihre erste Online-Überweisung vor. Sie hat Schweißränder unter den Achseln, als die Zahlungsbestätigung auf dem Bildschirm erscheint.
„Wahnsinn! Ich bin heilfroh, dass du mitkommst, Gerda.“
„Das werden wir sehen, wenn es soweit ist. Vielleicht bleibe ich auch einfach hier bei meinem Garten und lass dich alleine fahren.“
„Nichts da! Du bist jetzt angemeldet.“
Gerda lächelt:
„Na und? Könnte trotzdem sein, dass ich mich vorher noch abmelde.“
***
In den darauffolgenden Wochen wird Gerda immer schwächer und stiller. Als Helene an einem Vormittag kurz vor Weihnachten Gerdas Wohnung betritt, ist es wieder verdächtig ruhig. Normalerweise sitzt Gerda um diese Uhrzeit bereits vor dem Fernseher.
„Gerda? Wo steckst du?“
Gerda antwortet wie üblich nicht. Obwohl Helene das kennt, zieht sich ihr Herz unheilahnend zusammen. Sie sucht erst im Wohnzimmer, dann in der Küche und im Bad. Schließlich findet sie Gerda reglos in ihrem Bett liegen, was für diese Tageszeit äußerst ungewöhnlich ist. Helene muss an das Bild ihrer toten Mutter denken. Tränen schießen in ihre Augen. Sachte rüttelt sie an Gerdas Schulter:
„Gerda?“
Da schlägt Gerda die Augen auf:
„Was ist denn?“
Erleichtert sackt Helene auf dem Sessel neben dem großen Ehebett zusammen und greift sich an die Brust:
„Ach, Gerda, hast du mich erschreckt! Ich dachte schon, du wärst tot.“
„Nein, ich glaube nicht.“
Helene lacht:
„Ich glaube auch nicht. Du redest ja noch mit mir.“
„Stimmt.“
„Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut, Gerda? Willst du heute gar nicht aufstehen?“
Gerda schaut Helene aus trüben Augen an:
„Ich weiß es nicht. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hab ich mich so gerädert gefühlt und mich deshalb einfach nochmal umgedreht. Dann bin ich wohl wieder eingeschlafen. Ich denke, ich möchte lieber noch etwas liegen bleiben.“
Gerda sieht blass und eingefallen aus. Helene überlegt, ob sie einen Arzt rufen soll.
„Möchtest du denn nichts essen, Gerda?“
„Nein, danke.“
„Soll ich dir einen schönen Bohnenkaffee kochen?“
Gerda schüttelt den Kopf und dreht sich auf die Seite.
„Gerda?“
„Was?“
„Du machst jetzt nicht etwa ernst – oder? Es wäre mir wirklich lieber, einen Arzt zu rufen?“
„Bloß nicht! Lass mich doch einfach noch ein bisschen schlafen. Du kannst ja später wiederkommen.“
Helene ist ratlos:
„O.k., Gerda. Dann gehe ich wieder rüber und schaue später nochmal bei dir vorbei. Falls etwas ist, kannst du ja anrufen. Ich hole mal schnell das Telefon aus der Ladestation.“
Sie deckt Gerda ordentlich zu und lüftet während sie das Telefon holen geht. Als sie zurückkommt, schläft Gerda schon wieder. Helene legt das Telefon auf dem Nachttisch ab, damit Gerda im Notfall anrufen kann. Beim Hinausgehen schließt sie die Schlafzimmertür leise.
„Es wird Zeit, dass ich ein Babyphone für Gerda besorge …“, denkt Helene, als sie in ihr eigenes Haus zurückkehrt. Die Russin verstaut gerade Umschläge und Päckchen im Auto. Sie grüßen sich nur kurz.
Von diesem Tag an möchte Gerda nicht mehr aufstehen. Sie will aber auch keinen Arzt sehen, sondern einfach nur in ihrem Bett bleiben. Helene kommt jetzt drei Mal am Tag, um nach ihr zu sehen. Sie wäscht und kämmt Gerda, wechselt die Wäsche, kocht leicht verdauliche Gerichte und sorgt dafür, dass Gerda genug trinkt. Helene telefoniert auch mit dem Sanitätshaus, das ihr Windeln und eine Bettpfanne liefert, an die sie sich beide erst gewöhnen müssen.
„Egal, was passiert, Helene, versprich mir, keinen Arzt zu rufen.“
„Das kann ich nicht, Gerda.“
„Ich weiß, ich verlange viel von dir. Und du sollst dabei auch gar nicht an das denken, was wir besprochen haben. Schieb den Gedanken an das Geld mal beiseite. Tu es einfach nur mir zuliebe. Bitte. Ich fürchte mich vor Ärzten und Krankenhäusern. Ich will auch in keine Kühlhalle, keinen Leichenwagen, keinen Sarg, kein Feuer und keine Urne. Erst recht will ich keinen dieser schweren Grabsteine auf mir liegen haben – hörst du, Helene? Wenn du mir hilfst, schaffe ich es auch ohne das alles.“
Helene schaut Gerda traurig an:
„Aber möchtest du denn nicht bei deinem Albert liegen?“
Gerda stöhnt auf:
„Ach, Albert! Neben dem habe ich lange genug gelegen.“
Helene traut ihren Ohren nicht:
„Was erzählst du denn da?“
„Weißt du, in meiner Generation hat man über solche Sachen nicht mit jedem geredet. – Eigentlich gar nicht, wenn man es genau nimmt. Albert war ein schrecklich liebloser Mann: grob, kalt und gierig. Ich war froh, als ich endlich Ruhe vor ihm hatte.“
Helene hält sich entsetzt die Hand vor den Mund:
„Das klingt ja furchtbar, Gerda!“
„Naja, schön war es nicht. Aber ich hatte ja sonst ein gutes Leben. Ich hatte mein Haus, meinen Garten und meine Katzen. Dafür musste ich hin und wieder die Beine breit machen.“
Helene schießt das Blut ins Gesicht:
„Oh, Gerda! Das tut mir leid! Wie verschieden unsere Männer doch waren. Ich habe mir oft gewünscht, Bruno würde sich etwas mehr aus Sex machen. Ich habe das eigentlich ganz gern gemocht.“
Gerda schaut sie neugierig an:
„Den Sex? Was hast du daran denn gemocht?“
Helene überlegt und lächelt verlegen:
„Bruno hat immer darauf geachtet, dass es mir gut dabei ging. Aber dann ist es immer seltener geworden. Das mit dem Sex bleibt ja nicht so spannend wie am Anfang.“
„Glaubst du, er hat dich mit einer anderen Frau betrogen?“
Jetzt muss Helene lachen:
„Bruno? Himmel, nein! Bruno mochte nichts, was er nicht kannte.“
„Helene, ich wünsche mir für dich, dass du noch mal einen richtig aufregenden Liebhaber findest. Du kümmerst dich so aufopfernd um andere. Jetzt sollte sich mal jemand voll und ganz um dich kümmern.“
„Ach, du und deine wilden Ideen, Gerda … Jetzt ruh dich ein bisschen aus. Das Reden hat dich sehr angestrengt.“
Helene steckt die Bettdecke um Gerda herum fest.
„Helene?“
„Ja, Gerda?“
„Kannst du das bitte lassen? Ich mag es nicht, eingesperrt zu sein.“
„Na klar.“
Helene zieht die Bettdecke wieder heraus und schüttelt sie auf, bevor sie sie locker über Gerda ausbreitet.
„So besser?“
Gerda lächelt dankbar. Tränen glitzern in ihren Augen.
***
Weihnachten verbringen die beiden Frauen zusammen in Gerdas Schlafzimmer. Unter Gerdas Anleitung schmückt Helene eine kleine Blautanne, die neben dem Kleiderschrank steht. Den Christbaum-Schmuck hat sie in Gerdas Keller gefunden. Helene kocht Gerdas Leibgericht: Sauerbraten mit Rotkraut. Nicht ideal für eine schwache, bettlägerige Frau. Aber es war ja nur einmal Weihnachten im Jahr, und für Gerda wahrscheinlich sogar das letzte Mal. Deshalb trinken sie auch noch eine verstaubte Flasche 1984er Bordeaux aus Gerdas Weinregal. Den hatte Albert nach 40 Jahren treuer Verschwiegenheit von seiner Firma zur Pensionierung geschenkt bekommen. Der Wein ist stark und schmeckt etwas nach Kork.
Später am Abend zieht Gerda einen weißen Umschlag unter ihrer Bettdecke hervor:
„Frohe Weihnachten, Helene.“
Helene ist verlegen, weil sie nichts für Gerda hat. Doch Gerda winkt ab:
„Ich brauch nix mehr. … Los, mach schon auf.“
Helene öffnet den Umschlag, in dem sich eine Klappkarte befindet. Gerda hat mit krakeliger Schrift eine Widmung hineingeschrieben:
✏ Danke für alles, liebe Helene!
Darunter steht eine 5-stellige Zahl. Helene ist gerührt:
„Ach, Gerda! Gern geschehen. – Was ist das für eine Zahl?“
„Heb sie gut auf. Das ist der Zahlen-Code für den Tresor in Alberts Arbeitszimmer. Er ist im Wandschrank in die Mauer eingelassen. Und hier ist noch etwas für dich.“
Sie beugt sich zu ihrem Nachttisch hinüber und holt eine bemalte Spanschachtel aus der Schublade. Die Bewegung strengt sie sehr an. Helene öffnet das alte Kästchen, in dem eine weiße Schellmuschel liegt. Sie lächelt:
„Das ist aber hübsch, Gerda.“
Gerda nickt und klopft mit ihrer Hand auf die Bettdecke:
„Leg die Muschel mal hier ab und hol das Samtkissen raus.“
Helene tut wie ihr geheißen.
„Und jetzt?“
„Jetzt versuch mal, das Kissen zu biegen.“
In diesem Moment spürt Helene, dass ein fester Gegenstand darin eingenäht ist. Sie schaut Gerda fragend an. Gerda lässt sich wieder auf ihren Kissenberg zurücksinken:
„Das ist der Schlüssel zu meinem Schließfach bei der Bank. Da liegen die ganzen Papiere zu den Goldbarren und eine Vollmacht für dich. Die wirst du später brauchen.“
Helene möchte was sagen, aber Gerda winkt schon wieder ab.
„Kannst du mir bitte ein einziges Mal nicht widersprechen? Keiner außer dir weiß von diesem Gold. Also nimm es einfach, wenn ich tot bin. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“
Helene schluckt herunter, was ihr auf der Zunge liegt. Sie würde Gerda ohnehin nicht umstimmen. Und bevor Jonas auch noch das Gold einheimste, würde sie sich lieber selbst darum kümmern. In gewisser Weise war sie das Gerda sogar schuldig.
Helene steckt das Kissen zurück in die Schachtel und legt die Muschel wieder darauf.
„Was ist das für ein entzückendes Kästchen, Gerda? Mit so hübschen Schiffen drauf. Es scheint sehr alt zu sein.“
Gerda nickt und lächelt seit langem einmal wieder.
„Ja, es ist fast so alt wie du.“
„Wo hast du es her?“
„Das hat mir ein junger amerikanischer Soldat nach dem Krieg aus seiner Heimat an der Ostküste geschickt.“
„Klingt romantisch. Wie habt ihr euch kennengelernt?“
„Auch ich kann Dinge mit mir ins Grab nehmen.“
„Schade. Und was ist aus ihm geworden?“
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat er irgendjemanden geheiratet. Genau wie ich.“
Helene steckt nun auch die Karte zurück ins Kuvert. Sie nimmt den Umschlag und das Kästchen und nickt stumm während sie Gerdas kraftlose Hand drückt. Dann geht sie in die Küche, um aufzuräumen, damit Gerda sie nicht weinen sieht.
In der Nacht schläft Gerda unruhig und Helene übernachtet auf der Couch. Das Gleiche an Sylvester. Nur um Mitternacht werden sie noch einmal vom Lärm der Böller und Raketen wach, die sie durch das Fenster beobachten.
***
Vierzehn Tage danach verweigerte Gerda das Essen. Ende Januar stellte sie auch das Trinken ein. Gefühlte hundert Mal hatte Helene in diesen drei Wochen die Hand am Telefon, um einen Arzt zu rufen. Eigentlich hätte sie auch Jonas Lissmann informieren müssen. Doch jedes Mal, wenn sie Gerdas flehenden Blick sah, hatte sie die Hand wieder zurück gezogen.
Um Luft ringend stirbt Gerda in der Nacht zum 3. Februar 2013 in ihrem Bett. Helene weicht ihr nicht von der Seite. Als es vorbei ist, sitzt Helene zwei Stunden lang reglos im Sessel neben der toten Gerda. Dann steht sie auf, wäscht den ausgezehrten Körper, kleidet ihn in ein frisches Nachthemd und legt Gerda eine warme Decke unter. Sie muss handeln, bevor Gerdas Körper steif wird.
Um drei Uhr nachts versichert sich Helene, dass es draußen ruhig ist und in den Nachbarhäusern kein Licht brennt. Zum Glück haben Gerda und Albert ihren Garten mit hohen Hecken umsäumt, damit niemand hineinsehen kann. Dann kehrt Helene in Gerdas Schlafzimmer zurück, schultert, was von Gerda übrig ist, mitsamt Decke von hinten auf ihren Rücken und schleift das Bündel die Stufen hinab in den Garten. Die warme Decke hüllt die beiden Frauen ein wie ein dunkles Leichentuch.
Obwohl sie nur noch aus Haut und Knochen besteht, ist die tote Gerda deutlich schwerer als Helene vermutet hat. Leise keuchend lässt sie den Leichnam hinter den Rhododendron-Büschen in einen Graben gleiten, den sie in den Nächten der letzten warmen Januar-Tage fünf Fuß tief ausgehoben hat. Wegen des Dauerregens war die Erde schön locker gewesen.
Liebevoll bettet Helene ihre Nachbarin zur letzten Ruhe. Sie legt die bemalte Spanschachtel in Gerdas Hände und schlägt die Wolldecke über ihrem Körper zusammen, damit beim Zuschaufeln keine Erde auf ihr Gesicht fällt. Dabei hätte Gerda das Gefühl sicher gemocht. Ganz vorsichtig tritt Helene die Erde mit ihren Gummistiefeln fest. Im Frühjahr, vor ihrer Galapagos-Reise, wenn sich die Erde etwas gesenkt hätte, will Helene einen dritten Rhododendron-Busch auf das Grab pflanzen. Einen weißen. Die mochte Gerda am liebsten. Helene dreht sich um. Noch immer ist alles still. Sie geht in ihr Haus, um den weißen Umschlag zu holen, den Gerda ihr an Weihnachten geschenkt hat.
Zurück in Gerdas Wohnung zieht sich Helene Einweg-Handschuhe über und beginnt, den Zahlen-Code in Alberts Tresor einzutippen. Sie benötigt zwei Anläufe, bis sie die richtigen Tasten getroffen hat, so sehr zittern ihre Hände. Als die Tür des Tresors aufspringt, eröffnet sich Helene ein unglaublicher Blick: Neben einem Stapel Geldscheinen liegen – in Zweierreihen übereinander gestapelt – mehrere Goldbarren zu je einem Kilo. Helene hat so etwas noch nie gesehen und war sich ihr Leben lang sicher gewesen, so etwas auch nie zu Gesicht zu bekommen. Doch nun schimmerte das Gold vor ihr im Schein von Alberts Schreibtisch-Lampe und sie traute sich nicht, es zu berühren.
Nach einer Weile holt Helene die Hälfte der Geldscheine heraus und steckt sie in ihre Manteltasche. Dann schließt sie den Tresor wieder ab und verlässt Gerdas Wohnung im Morgengrauen. In der kommenden Nacht will sie ein weiteres Loch – diesmal in ihrem eigenen Garten – graben und das Gold mit dem Einkaufskorb, der immer noch in Gerdas Küche steht, nach drüben schmuggeln: jeden Abend zwei Barren, bis alles in ihrem Garten vergraben ist.
Im Mai 2013 tritt Helene ihre Reise zu den Galapagos-Inseln an, wo sie wilde Pinguine beobachtet. Die Reise gibt ihr die Kraft, die sie braucht, um Gerdas Plan weiterzuverfolgen.
***
Drei Jahre vergehen bis Helene Jonas Lissmann anruft, um ihn über das Verschwinden seiner Großtante zu informieren. In diesen drei Jahren hatte sich Jonas nur drei Mal bei Helene gemeldet und jedes Mal gleichmütig zur Kenntnis genommen, dass Gerda wohlauf sei, aber gerade keine Lust verspüre, mit ihrem Großneffen zu telefonieren. Den Lohn für nachbarschaftliche Hilfe erhöhte Jonas Lissmann nie.
Helene hatte lange über alles nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass ihr Gerdas Plan seelisch und körperlich über den Kopf wuchs. Jeden Tag musste Helene sich zwei Mal lange genug in Gerdas Wohnung aufhalten, um keinen Verdacht bei den Nachbarn zu erregen. Mit ihrem Einkaufskorb brachte sie Lebensmittel hinüber, um sie dort alleine zu verzehren. Jeden Morgen schaltete Helene Gerdas Fernseher ein und frühstückte unter ohrenbetäubender Beschallung an Gerdas Esstisch. Ihren eigenen Fernseher nutzte sie kaum noch. Abends kochte sie sich ihr Essen in Gerdas Küche und schaltete den Fernseher wieder aus, bevor sie endlich in ihr eigenes Bett schlüpfte. Sie hielt Gerdas Wohnung in Schuss. Gerdas benutzte Bett deckte sie mit einer Plastikplane ab.
Helene erledigte weiterhin alle Bankgeschäfte mit Gerdas Laptop und hob regelmäßig Zweidrittel von Gerdas Rente am Bankautomaten ab. Wenn sie Frau Zellweg dort begegnete, grüßten sie sich freundlich und tauschten ein paar höfliche Sätze über Gerdas Befinden aus.
Hin und wieder schmuggelte Helene ein Stück aus Gerdas Nachlass zu sich hinüber – etwas, von dem sie wusste, dass es Gerda viel bedeutet hatte. Oder weil es ihr gut gefiel und es sie an Gerda erinnerte. Mit dem Rest sollte Jonas machen, was er wollte. Unterdessen wickelte die Russin ihre Büro-Geschäfte im Erdgeschoss ab. Sie machte keinerlei Anstalten, in das Haus einzuziehen – weder mit noch ohne Eisenmann.
Natürlich sah Helene auch regelmäßig nach Gerdas Garten und nach dem Rhododendron-Busch. Helene sorgte dafür, dass der Busch gut anwuchs und freute sich von Herzen, wenn er im Frühling weiß blühte. Für die Gartenpflege bedankte sich die Russin gelegentlich mit teurer Schokolade bei Helene.
Beim Aufräumen fiel ihr ein Aktenordner mit amtlichen Dokumenten in die Hände – darunter auch das beglaubigte Testament, in dem Gerda und Albert ihren Großneffen Jonas Lissmann als alleinigen Erben eingesetzt hatten. Daran angeheftet fand Helene einen handschriftlich verfassten Zusatz, in dem Gerda ihren Großneffen bat, …
✏ meiner fürsorglichen Nachbarin Helene Tanner, trotz anders lautenden Testaments, einen Teil des Vermögens, das sich auf meinem Konto angesammelt hat, als persönliche Würdigung für ihre unentbehrliche Unterstützung zu überlassen. Ich halte eine Schenkung in Höhe von 50.000 Euro für angemessen.
Das Schreiben war nicht beglaubigt. Helene schüttelte den Kopf:
„Oh, Gerda, du Schlitzohr! Wenn das keinen Ärger gibt.“
Kurz überlegte sie, ob es nicht besser sei, den Zettel verschwinden zu lassen. Doch die Heftklammer hatte bereits hässliche Löcher in das Testament gebohrt. Außerdem interessierte es sie, ob Gerda damit durchkommen würde? Im Grunde war es ihr egal. Helene wischte ihre Fingerabdrücke ab und stellte den Ordner wieder an seinen Platz. Sie würde das in aller Ruhe auf sich zukommen lassen.
***
☎ „Was meinen Sie mit weg?„
Brüllt Jonas fassungslos ins Telefon. Helenes Trommelfell ist alarmiert.
☎ „Schreien Sie mich gefälligst nicht so an! Gerda muss nach dem Frühstück, als ich einkaufen war, das Haus verlassen haben. Bisher ist sie nicht wieder aufgetaucht. Wahrscheinlich hat sie sich verlaufen. Sie war ja manchmal etwas verwirrt in letzter Zeit.“
☎ „Verwirrt? Warum sagen Sie mir das erst jetzt?“
☎ „Sie haben mich nie danach gefragt. Sie wollten immer nur wissen, ob alles läuft.“
☎ „Ganz offensichtlich lief es ja nicht.“
☎ „Doch, bis heute schon. Dass alte Leute manchmal etwas verwirrt und vergesslich sind, ist nichts Ungewöhnliches. Die meiste Zeit funktionierte Gerdas Kopf sogar besser als mein eigener.“
Am anderen Ende kehrt Stille ein. Helene ergänzt:
☎ „Außerdem habe ich Ihnen erzählt, dass Ihre Tante immer seniler wird. Das schien Sie bisher nicht sehr beunruhigt zu haben. Sie haben darüber nur gelacht.“
Immer noch Stille. Dann fragt Jonas kleinlaut:
☎ „Und was machen wir jetzt?“
Helene findet Vergnügen daran, den verängstigten Großneffen etwas schmoren zu lassen:
☎ „Das weiß ich doch nicht. Ist es Ihre Tante oder meine?“
Jonas braust wieder auf:
☎ „Aber Sie hatten doch die Verantwortung für sie.“
Helene lacht:
☎ „Wie bitte? Ich habe nur ein bisschen nach ihrer Tante gesehen. Oder haben Sie einen anderslautenden Vertrag?“
☎ „Natürlich nicht. Das wissen Sie genau. Aber ich habe Sie dafür bezahlt, dass Sie auf meine Tante aufpassen.“
☎ „Sie meinen die kleine Pauschale für die Aufwände, die ich wegen Ihrer Tante hatte: Haus und Garten in Schuss halten, kochen, waschen, wickeln und dergleichen?“
☎ „Wickeln?“
☎ „Was dachten Sie, wie das so läuft mit der Inkontinenz?“
Stille.
☎ „Wollen Sie das jetzt via Selbstanzeige als Schwarzgeld für eine unangemeldete Haushaltshilfe deklarieren? Streng genommen haben Sie immer noch die Aufsichtspflicht inne. Sie hätten halt mal vorbei kommen müssen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Das Geld für Gerdas Haus einkassieren und zweimal im Jahr anrufen, reicht da sicher nicht aus.“
Jonas ist sprachlos. Doch dann fängt er sich wieder:
☎ „Es bringt ja nichts, sich jetzt gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Haben Sie die Polizei schon informiert?“
☎ „Nein, das wollte ich Ihnen überlassen.“
☎ „O.k. Dann rufe ich da mal an. Wann genau ist sie verschwunden?“
☎ „Zwischen elf und halb eins heute Mittag.“
***
Gerda bleibt trotz Ermittlungen verschollen. Keiner hat die alte Frau gesehen. Seit Jahren nicht mehr. Eine kurze Weile schnüffelten die Spürhunde im Garten an Gerdas altem Gummistiefel herum, den Helene vorsorglich beim neuen Rhododendron-Busch platziert hat. Dann zogen die Polizisten sie von dort weg und Helene atmete auf.
Beim Verhör erzählt die junge Russin im Erdgeschoss, dass sie oft den Fernseher hat laufen hören. Die Alte sei wohl ziemlich schwerhörig gewesen. Außerdem habe die Nachbarin regelmäßig nach Gerda gesehen und Lebensmittel vorbeigebracht oder geputzt. Woher sie das alles wisse, fragt Kommissar Lensenroth, wo sie doch gar nicht im Haus wohne? Slava erklärt ihm nachsichtig, dass sie noch nicht im Erdgeschoss wohne, weil sie Angst habe, mit einer sterbenden Frau unter einem Dach zu leben, was wohl verständlich sei. Trotzdem habe sie schon mal mit der Renovierung begonnen, denn allzu lange könne das mit der Alten sicher nicht mehr dauern. Außerdem wisse sie, wie sich ein Staubsauger anhört. Das alles kommt sehr flüssig, aber mit starkem Akzent über ihre roten Lippen. Der Beamte hat Mühe, seinen Blick von ihrem Mund zu lösen und alles mitzuschreiben.
Helene kann die Aussage der Russin im Wesentlichen bestätigen. Über Kühltaschen, Päckchen und Umschläge verliert sie kein Wort. Dafür kann sie das Nachthemd genau beschreiben, das Gerda zuletzt trug.
Auch bei der Bank sind keine Unregelmäßigkeiten bekannt. Alles scheint in bester Ordnung. Nur Gerda fehlt. Der ermittelnde Beamte steht vor Gerdas zerwühltem Bett und denkt mit Schrecken an seine eigene Mutter, die auch langsam in die Jahre kommt.
Ob etwas in der Wohnung fehlt, kann Jonas Lissmann, der sich zwei Tage freinehmen musste, um nach Weiterstadt zu fahren, leider nicht beurteilen. Als er fragt, was mit dem Geld sei, das im Tresor liege, für den Onkel Albert ihm vor seinem Tod noch den Zahlen-Code geschickt hätte, erhält er die unbefriedigende Auskunft, dass absolut nichts entwendet werden dürfe, bevor die Ermittlungen nicht abgeschlossen seien. Gerda müsse erst wieder auftauchen – tot oder lebendig.
Also geht Jonas im Arbeitszimmer schon einmal alle Aktenordner durch. Dabei stößt er auf Gerdas testamentarischen Zusatz. Er ist außer sich vor Zorn und fotografiert das Testament mitsamt Anhang. Zurück in seiner Heimatstadt München betraut Jonas Lissmann eine Anwältin für Erbrecht mit der Angelegenheit.
Epilog
Mit Hilfe der Rechtsanwältin wird Gerda Lissmann nach drei Jahren Verschollenheit für tot erklärt. Das Verfahren kostet Jonas ein kleines Vermögen. Und da er Helene für das Verschwinden seiner Großtante verantwortlich macht, wird Jonas auf Gerdas letzten Willen – mit Verlaub – einfach scheißen. Rechtlich steht ihm das zu.
Weil sich nach Gerdas Verschwinden zu viel Polizei im Haus aufhält, werden Slava und der Eisenmann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den gesamten Inhalt des Erdgeschosses zurück nach Darmstadt verfrachten. Es stinkt den beiden gewaltig, aber die Sache mit der verschwundenen Alten ist zu riskant. Sie rechnen nicht damit, dass sich diese Sache ganze drei Jahre hinziehen wird.
Helene wird sich weiter um Gerdas Garten kümmern. Vor allem um den weißen Rhododendron-Busch. Jedes Jahr wird sie im Mai eine Gerda-Gedächtnis-Reise machen, um die Welt jenseits von Weiterstadt zu entdecken. Auf ihrer dritten Reise lernt sie Hans Bollier aus Luxemburg kennen und verliebt sich leidenschaftlich in ihn.
Hans Bollier wird Helene helfen, die verscharrten Goldbarren in Bargeld umzuwandeln. Auf seine Frage, ob sie zu ihm nach Luxemburg ziehen wolle, wird Helene antworten, dass sie vorerst lieber bei ihrem Haus und Gerdas Garten bleibe. Der Rest sei Zukunftsmusik, und über ungelegte Eier wolle sie sich nicht so viele Gedanken machen.