Luis-24-Sozialhilfe-Empfänger
Darmstadt, 24. September 2012
Luis sieht die Ärztin im Spalt der Aufzugstüren verschwinden. Ihr Kopf scheint auf Hochtouren zu arbeiten.
„Als sei sie gerade einem Alien begegnet …“, denkt er und grinst in sich hinein. Äußerlich merkt man davon nichts.
„Das war sie also. Jim hat mir schon viel von seiner Ärztin erzählt. Aber jetzt verstehe ich besser, warum er so gerne hierher kommt, statt mal in eine andere Klinik zu gehen, was mir bedeutend lieber wäre.“
Luis sieht auf seine Hand hinab. Langsam öffnet er die schwer beringte Faust und begutachtet den zerknitterten roten Papierschnipsel darin:
„Ein Abholschein von einer Reinigung.“
Der Zettel ist der Ärztin mit dem Schlüssel aus der Tasche gefallen. Die Reinigung liegt in einem guten Wohnviertel von Darmstadt. Das könnte er morgen mal auskundschaften und in der Reinigung vorbeischauen.
„Mal sehen, was die Frau Doktor dort abgegeben hat. Vielleicht ist ja was für Slava dabei.“
Slava freute sich immer über Geschenke.
Der Fahrstuhl hält einige Male auf dem Weg nach unten. Leute steigen ein: Leute mit kranken Gesichtern, Leute mit traurigen Gesichtern, Leute mit ratlosen Gesichtern. Von den Geburten abgesehen, waren Kliniken nun mal kein Ort der Freude.
Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss ankommt, wartet bereits eine Menschen-Traube davor: Menschen mit müden Gesichtern, Menschen mit ängstlichen Gesichtern und Menschen mit resignierten Gesichtern. Luis kennt sie alle, die Gesichter des Schmerzes und der Verzweiflung. Auch wenn er ihnen nicht immer direkt gegenüber steht, so kann er doch behaupten, einigen davon ein paar entspannte Momente zu verschaffen. Genau genommen, dealte er einfach nur mit guter Zeit.
Luis zwängt sich an den Menschen vorbei, die schon in den Fahrstuhl drängen, obwohl noch nicht alle aussteigen konnten. Energisch setzt er sich den Dränglern zur Wehr. Eine Frau mit Kopftuch, die er unsanft zur Seite drückt, ruft ihm türkische Wörter nach.
„Schon gut, Suleika. Lern du erst mal Deutsch.“
Die Hände tief in den Taschen seiner Bomberjacke vergraben, huscht Luis an der Rezeption vorbei. Nach so vielen Jahren kennen sie ihn alle. Doch sie grüßen ihn nicht mehr, weil Luis immer wegsieht.
Draußen auf der Straße beschleunigt Luis seinen Schritt. Er hat das Auto – einen mattschwarz lackierten Audi 90 – drei Straßen weiter im Halteverbot stehen. Luis zieht einen alten Strafzettel aus dem Wischerblatt und legt ihn zurück zu den anderen ins Handschuhfach. Dann lässt er den Motor an und wendet über zwei durchgezogene Linien hinweg. Ein entgegenkommendes Auto hupt, doch Luis verzieht keine Miene und gibt Gas. Sein Kofferraum ist voller Päckchen und Kuverts, die heute noch ausgeliefert werden müssen. Die Kundschaft mag keine Verspätung. Deshalb kümmert sich Luis um den Versand lieber selbst. Da traute er keinem. Nicht mal seinem Bruder – selbst wenn der zwischendurch mal clean war. In freier Wildbahn hielt Jim das nie länger als ein paar Tage, maximal zwei Wochen durch.
„Das Methadon schlägt wieder gut an. Seine Haut sieht gesünder aus und seine Pupillen haben eine normale Größe. Wenn der Idiot bloß die Finger vom Heroin lassen würde. Jetzt, wo alles so gut läuft.“
Früher hatte Jims Drogen-Abhängigkeit mit dazu beigetragen, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der Gedanke hinterlässt einen fahlen Geschmack. Luis tritt das Gaspedal weiter durch. Im Zickzack-Kurs überholt er die anderen Autos auf der zweispurigen Ausfallstraße und schneidet dabei einen Mercedes, dessen Abstandskontrolle sofort anschlägt. Mehrere Reifenpaare quietschen.
„Nicht so dicht auffahren, Leute …“
Sein Blick ist ungerührt auf die Ampel gerichtet, die gerade auf Orange schaltet. Er gibt Gas und lässt die anderen Autos vor der Ampel zurück.
Nachdem er seine Ware beim Kurierdienst abgeliefert hat, fährt Luis zu Wenzel. Sie haben ihren vorerst letzten Termin. Sieben Sitzungen liegen schon hinter ihnen. Wenzel betreibt ein kleines Tattoo-Studio in der Nähe des Darmstädter Bahnhofs. Heute wird er das Skull-Tattoo um Luis’ linke Brustwarze herum vollenden: einen Pegasos, auf dessen sehnigem Rücken ein Sensenmann reitet. Die heutige Sitzung will Wenzel einer zertretene Rose unter dem Hinterhuf des aufgebäumten Pferdes widmen. Zwei Stunden haben sie dafür eingeplant.
Wenzels Arbeit ist Kunst am Körper. Er beherrscht sein Metier. Als abgebrochener Grafiker hat Wenzel ein Faible für filigrane Motive. Dafür ist er über die Stadtgrenze hinaus bekannt. An den Wänden seines Studios hängen Fotos von prominenten Kunden, Medaillen und Auszeichnungen. Das hat seinen Preis. Luis bezahlt ihn gern – zum Teil in Naturalien. Für die Tinte in seiner Haut hätte er sich auch einen Mittelklasse-Wagen leisten können.
Luis betritt den kleinen Laden, aus dessen Hinterzimmer ihm das Summen der Rotary entgegenschnurrt. Sonst hört man nichts. Wenzel sprach nicht bei der Arbeit, und alle wussten das. Bevor er loslegte, setzte Wenzel sich einen Kopfhörer auf die Ohren und ließ Death Metal laufen. Wer reden oder jammern wollte, sollte woanders hingehen. Der Kunde hörte stundenlang nichts als das zermürbende Geräusch der Tätowier-Maschine. Zwischendurch musste Wenzel die Maschine mal umrüsten. Dann, und nur dann, durfte man sich kurz bewegen.
Luis wartet geduldig. Nach einigen Minuten hört er, wie Wenzel die Tätowier-Pistole beiseite legt. Ein Rascheln verrät, dass sich im Nebenzimmer jemand anzieht, während Wenzel die Pistole reinigt.
„Zum Glück ist er da pingelig …“, denkt Luis.
Kurz darauf teilt sich der Perlenvorhang und Wenzel tritt in den Laden:
„Hi, Luis.“
„Hi, Wenzel.“
„Ist gleich frei.“
„O.k.“
Wenzel notiert etwas in seinem großen Lederbuch, das auf der Theke liegt. Dann bückt er sich, stellt einen Karton mit neuer Tätowier-Farbe auf den Tresen und entnimmt ihm zwei Ampullen. Auch das notiert er in seinem Lederbuch. Ohne aufzublicken fragt er:
„Hast du’s dabei?“
Luis greift in seine Bomberjacke und zieht einen Umschlag hervor. Er legt ihn auf die Theke und Wenzel nickt.
Als sich der Perlenvorhang zum zweiten Mal teilt, erscheint eine Frau mit langen Beine in schwarzen Latex-Hosen und Springerstiefeln. Der Ausschnitt des weiten Oberteils legt ihre rechte Schulter frei. Es ist eine fein definierte Schulter, über der sich zwei knöcherne Hände verschränken. Am hinteren der beiden dazugehörigen Handgelenke, direkt auf dem Schulterblatt, thront eine Gottesanbeterin. Um die vordere Hand windet sich eine Efeuranke, die im Dekolleté zwischen den kleinen Brüsten verschwindet.
„Ein typischer Wenzel …“, denkt Luis fasziniert. Die Frau beachtet ihn gar nicht. Ihr silber gefärbtes Haar fällt im Rücken bis zur Taille und sieht aus wie mit dem Eisen geglättet. Da sie keine 30 ist, verleiht ihr der Grauton etwas Überirdisches.
„Muss eine harte Sitzung gewesen sein …“, folgert Luis aus ihren angespannten Gesichtszügen. Auch Wenzel sieht sie prüfend an und stellt ein Glas Wasser vor sie auf die Theke. Die Frau nickt dankbar.
„Du weißt Bescheid?“, fragt Wenzel, worauf sie schweigend ein Bündel 50-Euro-Scheine aus ihrer Tasche zieht und neben das Wasserglas legt. Wenzel schließt das Geld zusammen mit Luis’ Kuvert hinter sich im Schrank ein. Als sie den Laden verlässt, bleibt eine süßliche Wolke aus Schweißgeruch und Parfum im Zimmer hängen. Die Männer sehen ihr nach, wie sie majestätisch die Straße überquert. Dann wendet sich Wenzel wieder seinem Lederbuch zu.
„Schöne Schulter“, bemerkt Luis beiläufig.
„Ja, aber nicht von mir.“
„Könnte aber von dir sein.“
Wenzel schüttelt den Kopf:
„Die Gottesanbeterin ist Pfusch.“
„Wenn du das sagst, wird es so sein.“
„Ist so.“
„Und wie geht’s unter dem T-Shirt weiter?“
Der Tätowierer grinst zum ersten Mal und zeigt seine Zahnlücke:
„Ich würde ja sagen, sieh selbst nach. Ist aber nicht.“
„Warum?“
„Lesbisch.“
„Na und?“
Wenzel lächelt nachsichtig:
„Los, fangen wir an. Dann kommst du auf andere Gedanken, Alter.“
Zweieinhalb Stunden später lenkt Luis seinen Audi Richtung Arheiligen. Über seinem linken Rippenbogen sticht das neue Tattoo. Wenzel hat ein Mullpflaster über die Arbeit geklebt, damit sich sein Werk nicht entzündet. Der Mensch ist ihm eigentlich egal. Luis parkt den Wagen am Straßenrand, wo er immer steht. Niemand sonst stellt sich auf diesen Parkplatz vor dem Hochhaus, in dem er mit seinem Bruder wohnt. Es ist ein öffentlicher Parkplatz, der mit den Jahren stillschweigend in Luis’ Besitz übergegangen ist.
Trotz seines jungen Alters wird Luis Stöcker im Viertel wie eine graue Eminenz behandelt. Keiner will sich mit ihm anlegen. Wenn möglich, gehen die Nachbarn ihm aus dem Weg. Wer neu dazu zog, erfuhr binnen kürzester Zeit von der üblen Geschichte der Stöcker-Brüder, die in Details variierte:
„Mit Luis ist nicht zu spaßen. Der lacht nie. Aber er tut auch keinem was. Der arme Kerl hat beide Eltern verloren. Die sind sternhagelvoll vom Dach gefallen oder so. Jetzt versucht er, seinen kleinen Junkie-Bruder durchzubringen. Das muss man echt anerkennen. Also, lasst ihn einfach in Ruhe.“
Luis dreht den Schlüssel herum und stemmt sich gegen die schwere Glastür. Dahinter liegt der schmutzige Windfang mit den besprühten Briefkästen. Durch den Briefkasten-Schlitz angelt Luis nach den Werbeblättern und Kuverts, die er zu fassen bekommt. Die Werbung landet bei den anderen Beilagen auf dem Boden, die Briefe klemmt sich Luis zwischen die Zähne. Im Aufzug reißt er ein Kuvert nach dem anderen auf und überfliegt den Inhalt im zitternden Neonlicht: Strafzettel und Rechnungen. Die meisten zerknüllt er sofort. Vor der zweiten Mahnung zahlte er nie. Ein Brief vom Sozialamt.
„Was wollen die schon wieder …“, stöhnt er leise.
Im neuenten Stock angekommen zwängt sich Luis an den beiden Kinderwagen vorbei, die seine türkischen Nachbarn im Flur parken, als wäre er ein Teil ihrer Wohnung. Um das noch zu betonen, stehen alle Schuhe der Familie gleich daneben. Der Flur stinkt nach Fußschweiß, Knoblauch und Kreuzkümmel. Das Gemisch schlägt Luis am Aufzug entgegen. Er hasst diesen Geruch, aber beschwert hat er sich noch nie. Die Nachbarn nehmen dafür die Pakete entgegen, die Luis täglich von Versand-Apotheken erhält, und stapeln sie vor seiner Wohnungstür. Da im obersten Stockwerk nur zwei Parteien wohnen, kommt selten jemand vorbei, der sich für Luis’ Pakete interessieren würde.
Luis schließt die Wohnungstür auf, schiebt die Pakete in die Diele und geht hinüber zum Wohnzimmer, das sie schon lange nicht mehr als solches nutzen. Ein Fünftel des Raums ist durch eine Trennwand abgeteilt, in deren Mitte eine Stahltür weit offen steht, weil Jim zurzeit in der Klinik ist. Sonst wäre sie mit einem Sicherheitsschloss verriegelt. Wenn sie Besuch bekamen, schoben Jim und Luis einen leeren Wohnzimmer-Schrank vor die Tür, damit niemand sie sehen konnte. Doch es kamen nie Leute zu Besuch, die die Tür nicht kannten. Außer dem Schrank standen ein Schreibtisch, eine beige Couch-Garnitur und ein trauriger Gummibaum im vorderen Teil des Zimmers.
Hinter dem Trenner, an der Wand zur Nachbar-Wohnung, ziehen sich hohe Metallregale entlang. Hier lagern Kartons, Luftpolster, Umschläge – ordentlich nach Größen sortiert. Den Rest der Regale füllen Plastik-Boxen mit Medikamenten-Schachteln: Opioide, Sedativa, Stimulanzien – alles sorgfältig etikettiert.
In einer schwarzen Mülltonne liegen abgelaufene Arzneimittel. Jim hat die Tonne im Hof eines baufälligen Hauses entdeckt. Keiner schien sie zu vermissen. Wenn die Müllabfuhr kommt, stellen Luis oder Jim sie vorne an die Straßenecke, damit niemand sie zuordnen kann. Für den Fall, das jemand hineinsah, bedeckten sie die Schachteln vorher mit stinkenden Müllsäcken. Die Nachbarn scherte es nicht, wenn die Stöcker-Buben eine übelriechende 240-Liter-Tonne durch den Flur und in den Aufzug rollten. Die beiden Jungs hatten einiges durchgemacht. Da hielt sich jeder Augen und Nase zu.
***
Mieter, die länger als vier Jahre hier wohnten, erinnerten sich lebhaft an den Tag, als die Straße abgesperrt war. Ein schreckliches Spektakel! Feuerwehr, Polizei, Leichenwagen: Sie alle waren wegen Vera Stöcker gekommen, die den Sturz vom Dach des Hochhauses natürlich nicht überlebt hatte. Sie war erst 42 Jahre alt. Sechs Monate zuvor hatte sie ihren Mann Klaus beerdigt. Nierenversagen. Wunderte keinen. Und im Grunde, meinten die Nachbarn, war die arme Frau auch besser dran ohne diesen Trunkenbold. Eine schlimme Geschichte! Vor allem für die Buben. Da waren sich alle Nachbarn einig.
Als Jim auf dem Heimweg von der Schule direkt in die gaffende Meute lief, hatte er sich ungehindert seinen Weg bis in die erste Reihe bahnen können. Dort stoppte ihn ein älterer Polizist, der nach Feststellung seiner Personalien einen Kollegen anwies, den Jungen aufs Revier zu bringen, wo sich eine Psychologin um ihn kümmern konnte. Jim gab keinen Ton von sich. Sehr erschüttert wirkte er nicht. Eher überrascht.
Luis war bereits zwanzig und sammelte seinen Bruder wieder ein, nachdem die Polizei ihn an seinem Arbeitsplatz aufgesucht hatte. Die türkischen Nachbarn wussten, wo Luis jobbte. Vera Stöcker hatte gern von ihren Söhnen gesprochen. Luis mochte den Job nicht besonders, aber die Kohle stimmte. Bis jetzt zumindest. Denn von diesem Tag an fühlte sich Luis für seinen kleinen Bruder verantwortlich.
Noch am gleichen Tag räumten die Brüder das elterliche Schlafzimmer aus. Luis wollte es unbedingt so, damit er endlich sein eigenes Zimmer bekäme. Dabei fiel Jim Veras Notizbuch in die Hände. Der letzte Eintrag war vom Vortag:
✏ Batterien und Müllsäcke kaufen.
Fassungslos starrte Jim auf die Wörter, bis Luis ihm das Büchlein aus der Hand riss und in einen der blauen Müllsäcke stopfte, die Vera kurz vor dem Sprung noch besorgt hatte. Sie waren jetzt sehr nützlich.
„Warum hat sie das getan, Luis? Wegen Papa? Sie haben sich doch dauernd gezofft. Weißt du noch, wie oft Mama damit gedroht hat, sich scheiden zu lassen, wenn er sich nicht ändert? Und wir hätten das auch noch gut gefunden – nur, damit mal Ruhe ist.“
Luis räumte weiter den Schlafzimmer-Schrank aus:
„Keine Ahnung, Jim. Ich glaube, ich will das auch gar nicht wissen. Es ist wie es ist. Hör auf, darüber nachzudenken.“
Luis fiel es nicht so schwer, die Vergangenheit loszulassen. Trotzdem: Jim hatte Recht. Solange er zurück denken konnte, hatten Vera und Klaus sich wegen jedem Scheiß gestritten. Bestenfalls waren nur böse Wörter hin und her geflogen. Schlimmstenfalls auch Gegenstände. Wenn Jim dann zu schlichten versuchte, musste Luis ihn aus der Schusslinie bringen. Sie spielten im Kinderzimmer, bis sich der Sturm draußen wieder legte.
Zwischen den Kämpfen betäubte sich Vera mit Tabletten und Klaus mit Alkohol. Das machte sie kaputt. Klaus noch ein bisschen schneller als Vera. Er trank schon länger. Als sie ihn das erste Mal ins Krankenhaus einliefern mussten, war es zu spät, um zur Vernunft zu kommen. Seltsamerweise wurde es damit ganz friedlich im Hause Stöcker. Als hätten Vera und Klaus ihre anfängliche Liebe wiederentdeckt. Auch das zu spät. Sie begruben Klaus nur wenige Wochen später an einem grauen Regentag. Außer Vera, Luis und Jim war niemand zugegen.
Von da an ging es mit Vera steil bergab. Ohnmächtig sahen die beiden Jungs zu, wie ihre Mutter die Tabletten in sich hinein fraß, die sie von verschiedenen Ärzten verschrieben bekam. Erst Schlaftabletten und Antidepressiva, schließlich Opioide. Gerne auch in Kombination. Wenn es ganz schlimm kam, nutzte sie Klaus‘ Spirituosen-Reste, um das Zeug runterzuspülen. Dann faselte sie abends wirres Zeug. Die Ärzte probierten alles an Vera aus, was die Pharma-Industrie im Angebot hatte und zu einer Besserung ihres Zustands hätte führen können.
Vera wechselte häufig den Arzt. Selten nahm sich einer von ihnen die Zeit, Veras Arzneimittel-Historie zu analysieren. Sie verordneten munter darauf los als gäbe es kein gestern und kein morgen. So kam es, dass Luis beim Aufräumen auf ein beachtliches Psychopharmaka-Lager stieß: unzählige angebrochene Packungen, die irgendwann durch ein anderes Medikament abgelöst worden waren. Allesamt verschreibungspflichtig. Luis fragte sich, warum Vera am Ende nicht diesen Weg gewählt hatte, sondern den schmerzvollen. Doch er witterte sofort, dass er auf eine Goldader gestoßen war und sicherte seinen Fund.
Als Luis in der Nacht nach der Aufräum-Aktion seine E-Mails checkte, fand er eine weitere Notiz von Vera – kurz vor ihrem Sprung abgesendet. Die E-Mail enthielt einen YouTube-Link. Als er ihn öffnete, stockte ihm das Herz. Seine Mutter sah ihm direkt in die Augen und fing an, sich zu bewegen. Offensichtlich war sie noch dabei, den richtigen Platz vor der Kamera einzunehmen. Ihre Augen hatten den typischen Schleier. Dann sprach sie zu ihm:
⏩ „Hallo mein Großer.
Pause.
⏩ Mein lieber, lieber Luis.
Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie wischte sie mit der Hand weg und versuchte, sich wieder zu konzentrieren.
⏩ Wenn du das hier siehst, bin ich hoffentlich tot. Bitte denkt nicht, dass es irgendwas mit euch zu tun hätte. So ist das nicht. Ich kann nur ohne Klaus nicht leben. Ich schaffe das nicht allein. Es kann auch für euch nicht gut sein, mich so zu sehen. Ich vermisse ihn ganz schrecklich und sehe keinen Sinn darin, diesen Schmerz weiter auszuhalten. Versucht bitte, uns zu verzeihen, dass wir euch allein gelassen habe.
Die Tränen tropften jetzt von ihrem Kinn.
⏩ Vergesst nie, dass ich euch sehr lieb habe. Auch Papa hat euch wirklich geliebt. Er konnte es nur nicht zeigen. Bleibt unbedingt zusammen. Das ist alles, was ich mir noch wünsche. Und wenn die in der Kirche recht haben, dann werden euer Vater und ich von da oben auf euch aufpassen. Aber jetzt, Luis, musst du erst mal auf Jim aufpassen. Du warst immer der Stärkste von uns allen. Ich zähle auf dich, mein Großer.“
Dann kam Veras Hand auf ihn zugeflogen und es wurde schwarz vor seinen Augen.
„Scheiße! Wer hat ihr gezeigt, wie man Videos in YouTube einstellt? …“, fragte sich Luis. „Jim darf dieses Video nie zu Gesicht bekommen.“
Doch es stand jetzt auf YouTube und er, Luis, hatte keine Möglichkeit, es dort zu löschen. Unter dem Video standen bereits 842 Views und 753 Likes. Sehr wahrscheinlich würden diese Zahlen in den nächsten Tagen rasant steigen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Jim von irgendwem darauf aufmerksam gemacht wurde.
„Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte! …“, stöhnte Luis leise mit großer Wut im Bauch. „Und ihr verpisst euch einfach! …“
Trotz seiner Volljährigkeit wollten sie Luis das Sorgerecht für seinen Bruder nicht übertragen. Andere Verwandte gab es nicht, die sich um Jim hätten kümmern können. Klaus war kurz vor der Wende in den Westen geflohen und hatte dort eine neue Identität angenommen. Nachdem ihn die Stasi drei Jahre lang durch den Wolf gedreht hatte, war er nicht mehr wiederzuerkennen gewesen. Er hätte problemlos durch die kleinste Mauerritze gepasst.
Zum Zeitpunkt seiner Flucht war Vera bereits schwanger gewesen. Nach der Geburt stellte sie einen Ausreise-Antrag. Als die Mauer fiel, wartete sie nicht länger. Klaus nahm sie am Brandenburger Tor in Empfang und seinen Sohn zum ersten Mal auf den Arm. Es änderte nichts an der Mauer in seinem Kopf. Sie blieb undurchdringlich.
Das Jugendamt plädierte für eine Pflegefamilie. Da nahm Luis sich einen Anwalt. Für ihn stand fest, dass er nun Familien-Oberhaupt war. Er würde für seinen Bruder sorgen, bis er auf eigenen Füßen stehen konnte. Egal, wie lange es dauerte.
Sie behielten die Sozialwohnung in Arheiligen, damit Jim die Schule nicht wechseln musste. Er war gut, und mit etwas Glück würde er das Abitur schaffen. Einige Nachbarn halfen aus, wo sie konnten, doch Luis passte es nicht, dass die Leute sich in ihr Leben einmischten. Er brauchte keine Hilfe. Von niemandem. Das vermittelte er deutlich.
Nachts, wenn Jim schlief, recherchierte Luis im Internet und legte Karteikarten an. Studien bestätigten seine Vermutung, dass es viele Medikamenten-Abhängige gab und folglich einen florierenden Schwarzmarkt. So gründete Luis Schachtel um Schachtel sein Psychopharmaka-Imperium im Deep Web – dem Teil des Internets, den Google nicht findet.
Veras Medikamenten-Vorrat war schnell aufgebraucht. Jetzt ging es darum, Nachschub zu organisieren. Zuerst sah er Todesanzeigen durch und kontaktierte die Hinterbliebenen als Pharma-Dienstleister, der sich um die Entsorgung überflüssiger Medikamente kümmerte, damit sie nicht in falsche Hände gerieten. Hierfür hatte er sich einen falschen Mitarbeiter-Ausweis gebastelt. Die trauernden Menschen sahen nicht so genau hin und waren froh, dass jemand vorbei kam, sie abzuholen. Es war nicht immer etwas Verwertbares dabei. Was er nicht brauchen konnte, warf Luis in den nächsten Abfalleimer.
Luis suchte auch nach Leuten, die wie seine Mutter an einer gewissen Überversorgung litten und bereit waren, sich gegen ein kleines Entgelt von ihren Pillen zu trennen. Weit musste er nicht gehen. In bestimmten Kreisen sprach sich so etwas schnell herum. Bald schon kontaktierten diese Leute ihn.
Luis wählte die Lieferanten sorgfältig aus und verkaufte auch nur auf persönliche Empfehlung hin. Was dabei herum kam, genügte neben dem Kinder-, Sozial- und Arbeitslosengeld, um seinen Job an den Nagel zu hängen und den Tablettenhandel zu professionalisieren.
Unter seinen Kunden fand er schließlich einen Informatik-Studenten, der einen Webshop programmieren konnte und sich mit dem Tor-Netzwerk auskannte. Im Gegenzug beteiligte Luis den jungen Mann an seinen dunklen Geschäften.
Zutritt zu diesem Webshop erhielten Interessenten nur über Luis’ gefakte Facelook-Seite, wo er sich unter falschem Namen als Hobby-Gärtner und Kräuter-Experte ausgab. Schließlich war gegen alles ein Kraut gewachsen, und bei Luis standen die Kräuternamen stellvertretend für einen bestimmten pharmazeutischen Wirkstoff. Man musste nur wissen, für welchen.
Die Geschäftsanbahnung startete, wenn ein Neukunde auf Luis’ Facelook-Seite eine Freundschaftsanfrage stellte. Bevor Luis darauf reagierte, musste ein gemeinsamer Facelook-Freund bestätigen, dass es sich um einen volljährigen und zahlungsfähigen Kunden handelte.
Klagte der neue Kunde über Läusebefall an einer #Verbena-Officinalis, wusste Luis, dass Benzodiazepin benötigt wurde, was wiederum nur einer seiner Kunden übersetzt haben konnte. Einer, der die Liste kannte, und sich zuvor über andere Kontakte qualifiziert hatte. Nach der Verifizierung schickte Luis einen absenderfreien Brief mit der URL des Webshops, der Übersetzungsliste und den Login-Daten an die Adresse, die ihm der neue Kunde für die Zusendung eines wirksamen Pestizids genannt hatte. Damit konnte der Kunde in Luis‘ Webshop kaufen, was er brauchte, um sich wohlzufühlen. Sobald das Geld in Luis‘ Postfach eingetroffen war, wurde die Ware per Kurierdienst verschickt. So die Regeln. Und es lief gut.
Bis Jim aus dem Ruder lief. Seine Drogen-Karriere startete mit dem Marihuana, das der Informatik-Student rauchte, und landete schnell beim Heroin. Als Luis es bemerkte, steckte Jim schon tief in der Scheiße. Luis war stinksauer – vor allem weil Jim sich das Geld für seine Drogen von ihm borgte. Als Sozialhilfe-Empfänger konnte Luis das Geld aus dem Tablettenhandel schlecht zur Bank bringen. Es lag ebenfalls in der Kammer hinter dem Wohnzimmer-Schrank, wo Jim es zufällig entdeckte. Inzwischen besaß Luis einen Safe.
Das Letzte, was Luis brauchen konnte, war ein Drogen-Junkie in der Familie. Jim stellte ein unkalkulierbares Risiko dar. Doch es blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen. Wenn es zu schlimm wurde, ließ Luis seinen Bruder in eine Klinik einweisen. Dort rekrutierte Jim eifrig neue Pillen-Lieferanten. Irgendwann ließ er den ersten Rezeptblock mitgehen, wodurch sie ihr kleines Business schnell zu einer Unternehmung ausbauen konnten. Die Idee war brillant und Luis dachte darüber nach, wie sie sich skalieren ließ.
Inzwischen arbeitete ein ganzes Netzwerk von Rezeptblock-Diebinnen für Luis. Die Frauen kamen überwiegend aus Osteuropa und waren als Reinigungskräfte bei Ärzten und Kliniken angestellt. Sie stahlen nicht nur Rezeptblöcke, sondern lösten auch die von Luis’ ausgestellten Privat-Rezepte bei Apotheken ein. Dafür zahlte er ihnen eine hübsche Provisionen. Es lief erst mal wieder.
Zum Glück war Jim inzwischen volljährig. Mit Hängen und Würgen hatte er das Abitur geschafft. Aber auf eigenen Füßen würde er wohl nie stehen – genau wie seine Mutter.
***
Luis schiebt die neuen Mahnungen unter die alten, die auf dem Schreibtisch vor sich hin gähnen. Er zieht vier Rezeptblöcke von Dr. Cornelia Krämer, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, aus seiner Bomberjacke und legt sie in die Schreibtisch-Schublade zu den anderen Rezeptblöcken. Jim hat sie bei seinen letzten Therapie-Sitzungen eingesteckt. Bisher war das keinem aufgefallen. Trotzdem wäre es Luis wohler, wenn Jim die Klinik ab und zu wechseln würde.
Die Klingel reißt Luis aus seinen Gedanken. Er wirft einen Blick auf die Uhr: einen TAG-Heuer-Chronographen, den alle für Fake halten, die ihn nicht besser kennen – und das tut keiner. 17:00 Uhr. Die Stunde von Slava. Sie kommt täglich zur gleichen Zeit. Luis geht zur Gegensprech-Anlage und drückt den Knopf:
„Slava, bist du das?“
„Ja, mein Schatz, was sonst.“
Er öffnet ihr die Haustür und wartet einige Minuten, bis sie mit dem Aufzug nach oben gefahren ist. Erst als er ihre Schritte im Flur hört, öffnet Luis die Wohnungstür.
Slava steht im roten Stretchkleid auf schwindelerregenden Plateau-Sohlen vor ihm. Das schwarze Haar ist streng zum Pferdeschwanz zurückgebunden, was ihre hohen Wangenknochen betont, die auch heute wieder mit zu viel Rouge belegt sind. Dennoch ist Slava die netteste Erscheinung in Luis‘ Crew und die Zuverlässigkeit in Person. Deshalb hat Luis ihr die Rolle der Teamleiterin übertragen.
Slava warb die Mitarbeiterinnen an, sammelte frische Rezeptblöcke ein und brachte sie zu Luis. Sie holte auch die fertigen Rezepte und das Geld bei Luis ab, mit dem ihre Mädels die Rezepte in den Apotheken einlösten, die sie aussuchte. Sie selbst betreute die Online-Apotheken. Ihr Organisationstalent war beeindruckend, was Luis hin und wieder mit einem Geschenk honorierte, das zum Ausdruck bringen sollte, wie wertvoll sie für ihn war.
Slava strahlt ihn an:
„Hi Luis.“
„Hey Slava.“
Sie schiebt ihre dralle Oberweite zu dicht an Luis vorbei in die Diele. Er zuckt zusammen. Das frische Tattoo meldete sich – und es rührt sich etwas zwischen seinen Beinen. Beides lässt er sich nicht anmerken. Gemächlich schlendert Slava durch den Flur auf die Wohnzimmertür zu. Sie kennt die Wirkung ihrer Rückansicht. Luis geht ihr nach, nimmt ihr die Kühltasche aus der Hand und bringt sie in die Kammer hinter der Stahltür. Von dort aus beobachtet er Slava, wie sie Rezeptblöcke und Rezepte auf dem Schreibtisch ablegt, die ihre Mitarbeiterinnen in der letzten Woche verschrieben bekommen haben. Damit konnte Luis die Unterschriften der Ärzte kopieren. Im Gegenzug wandert ein brauner Umschlag in Slavas Einkaufstasche. Das war’s. Der geschäftliche Teil ist erledigt.
Langsam geht Slava auf Luis zu, der die Eleganz ihres täglichen Rituals bewundert. Es lag viel Schönheit in ihrer Präzision. Luis weiß, was als Nächstes kommt und kann sich wegen des frischen Tattoos nur mäßig darauf freuen. Sachte legt er eine Hand auf Slavas Schulter, um sie von seiner schmerzenden Brust fernzuhalten.
„Was los mit disch, Luis?“
„Mit DIR.“
„Egal.“
„Alles gut. Nur das neue Tattoo schmerzt noch.“
Sie lächelt.
„Ooh … arme Luis. Tut noch weh – was? Zeig mal.“
Slava knöpft sein Hemd auf und puhlt mit spitzen roten Nägeln das Mullpflaster seitlich ab, damit sie einen Blick auf Wenzels Arbeit werfen kann. Mitleid huscht über ihr Gesicht. Dann klebt sie das Pflaster wieder fest und beginnt, Luis um das Pflaster herum zu küssen. Ihr Lippenstift hinterlässt keine Spuren. Bei so etwas sparte Slava nicht. Mit der Zungenspitze umkreist Slava Luis’ Brustwarze, was ihn weiter erregt. Es war unmöglich, ihr zu widerstehen. Sie war zu gut – bei allem, was sie tat. Dass sie jetzt kein Geld mehr mit dieser Art Können verdienen musste, dankte sie Luis auf ihre Weise.
Slava und Luis pflegten keine Beziehung im klassischen Sinne. Doch sie taten sich gut und das war viel besser. Mit zwei geübten Griffen öffnet Slava Luis’ Gürtel und alle Hosenknöpfe. Dann geht sie vor ihm auf die Knie. Luis fragt sich, ob ihr Kleid das mitmacht. Tut es.
„Du arme, arme Luis. Und? Tut disch das auch weh?“
„… dir …“, stöhnt Luis leise. Er hat seine Schmerzen längst vergessen.
Nachdem Slava gegangen ist, sortiert Luis die Medikamente in das Regal hinter der Stahltür ein. Er geht die Plastik-Boxen noch einmal durch und notiert, wo Nachschub fällig ist. Das Ritalin wurde knapp. Auch die Nootropika gingen zur Neige. Sie waren im Moment bei Managern sehr angesagt. Von den Durchfallmitteln hatte er zu viel. Jims Idee. Aber offenbar wussten nur wenige, wie man einen Heroin-Ersatz daraus herstellt, und Luis konnte schlecht Kochrezepte ins Internet stellen.
Luis setzt sich an den Schreibtisch und stellt Privat-Rezepte aus. Die Signatur von Dr. Krämer fließt ihm ganz leicht aus dem Handgelenk. Er hat sie schon hundert Mal gefälscht. An den anderen Signaturen muss er noch üben. Die fertigen Rezepte steckt er in einen braunen DIN-A4-Umschlag. Dann zählt er das Geld passend dazu ab. Knapp 4.000 Euro wandern mit in den Umschlag. Abzüglich aller Kosten und Provisionen erwirtschaftete er 10 Prozent Marge pro Tag. Steuerfrei. Luis‘ wollte sich am Drogengeschäft nicht bereichern, sondern zu zweit gut davon leben können. Es freute ihn trotzdem, dass er auch Slava und ihren Mädels ein angenehmeres Leben damit verschaffen konnte.
Nachdem Luis alle Bestellungen bearbeitet hat, widmet er sich seiner Facelook-Seite. Es gibt eine neue Freundschaftsanfrage von Gregor P:
>hallo kräutermann, ich habe im mai papaver somniferum ausgesät, aber er ist nicht aufgegangen. ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe? loretta r. sagt, ich soll dich mal fragen. du würdest dich da auskennen. >>
Und gleich darunter ein Post von Loretta R.:
>hi luis, nicht wundern, wenn dich ein gregor p. anspricht. er hat probleme mit seinen papaver-pflanzen. hab ihm deine adresse gegeben. vielleicht kannst du ihm helfen. >>
Alles vorbildlich. Das Neukunden-Vorspiel für Fentanyl, ein starkes Opioid, war abgeschlossen. Gregor P. hatte offenbar ein Suchtproblem. Sicher weigerte sich sein Arzt, die Dosis zu erhöhen. Luis interessiert es nicht, was andere Leute mit ihrem Körper anstellen, so lange sie ordentlich zahlen. Deshalb antwortet er:
>hi gregor, ich kann dir neue samen schicken. eine eigene züchtung. geht garantiert auf. gib mir mal deine adresse. >>
Fertig. Gleich würde Gregor P. ihm seine Adresse mitteilen. Bestimmt wartete er schon mit dem Finger am Senden-Knopf.
Luis steht auf, streckt sich müde und geht in die Küche. Hier stapelt sich seit Tagen das dreckige Geschirr in der Spüle. Wenn Jim nicht da ist, mutiert Luis zum Messie. Auch das ist Teil ihres Deals: Luis schafft die Kohle ran und Jim kümmert sich um den Haushalt.
„Eingespielt wie ein altes Ehepaar …“, denkt Luis.
„Vielleicht kann ich ohne Jim ja auch nicht mehr leben …?“
Dann macht er das Licht aus und geht einen Hamburger essen.
Am nächsten Morgen fährt Luis ins Steinberg-Viertel. Er stellt seinen Wagen auf einem Behinderten-Parkplatz vor der Reinigung ab, die zum Abholschein der Ärztin gehört. Direkt daneben liegt eine Apotheke. Er späht durch die Glastür und zählt die Kundenschalter. Ab fünf Schaltern wurde eine Apotheke für ihn erst interessant. Das sprach für eine große Klientel und wechselndes Personal. Damit sank das Risiko, dass seine Einkäuferinnen wiedererkannt wurden.
Luis notiert die Adresse für Slava und öffnet die Ladentür zur Reinigung. Beim Geräusch der Türglocke schlurft ein Mann lustlos vor zum Tresen, wo ihm Luis den roten Abholschein übergibt. Ein Wunder, dass der Alte die Türglocke überhaupt gehört hat beim Lärm der Bügelautomaten? Der Mann zieht die Lesebrille vom Scheitel auf die Nase und blickt kurz auf den Beleg. Seine buschigen Augenbrauen verunsichern Luis. Vielleicht war das Ganze doch keine so gute Idee?
Ohne ein Wort zu verlieren schlurft der Mann weiter zu einer runden Kleiderstange. Er lässt sie im Kreis fahren und hält sie öfter an, um auf einen der Zettel zu schielen, die oben an den Kleiderbügeln befestigt sind. Endlich findet er die richtige Stelle. Er schlurft wieder zurück und legt eine Lederjacke vor Luis auf den Tresen:
„Hätte nicht gedacht, dass die nochmal einer abholt … Naja, bezahlt ist sie ja wenigstens. Sonst noch was?“
Ohne zu antworten holt Luis die Lederjacke aus der Zellophan-Hülle. Ein schönes Teil, aber zu groß für Slava. Ihm könnte sie passen. Er zieht seine Bomberjacke aus und die Lederjacke über. Sie sitzt perfekt. Luis nimmt die Bomberjacke vom Tresen und steuert auf die Ladentür zu:
„Tu mal was gegen deine miese Laune, Alter.“
Der Reinigungsinhaber folgt Luis mit bösem Blick.
„Rotzbengel!“
„Genau die richtige Jacke für diese Jahreszeit …“, denkt Luis. In einem guten Moment hätte seine Mutter #Übergangsjacke dazu gesagt. Nicht, wenn sie faselte. Dann hätte sie so ein schwieriges Wort nicht aussprechen können. Luis greift in das weiche Leder. Diese Jacke hatte schon einiges erlebt. Genau wie er. Das fühlte man beim Tragen. Wegen des JOOP!-Labels könnte er bei Ebay sicher gutes Geld dafür erzielen. Aber die Jacke gefällt ihm und er beschließt, sie zu behalten.
Es sind nur wenige Schritte bis zu seinem Wagen. Kurz bevor er den Schlüssel ins Schloss schieben kann, packt ihn jemand von hinten an der Schulter und reißt ihn zu sich herum. Luis ist zu überrascht, um angemessen reagieren zu können. In manchen Vierteln musste man mit so etwas rechnen. Aber hier?
Der Mann vor ihm ist nicht größer als er, doch er hat Bärenkräfte und ein zornentbranntes Gesicht. Er packt Luis am Kragen und zerrt ihn vom Auto weg auf die Straße, wo ein Wagen quietschend zum Stehen kommt. Seine Augen funkeln:
„Du blöder Wichser! Zieh sofort die Jacke aus!“
Luis’ Bomberjacke liegt bereits am Boden. Noch immer begreift er nicht, was sich gerade abspielt. Vor allem will er keinen Ärger. Er hebt die Hände in die Luft zum Zeichen, dass er sich nicht wehren wird.
„Schon gut, Mann, beruhig dich wieder.“
Doch der Mann ist weit davon entfernt, sich zu beruhigen.
„Hat SIE dir die Jacke gegeben? – Dieses alte Miststück!“
„Was? … Wer?“
„Tu nicht so blöd oder ich polier dir deine Eisenfresse!“
Bevor er seine Drohung wahr machen kann, greift ein Passant beherzt ein und fixiert den Arm des Angreifers auf dessen Rücken:
„Hey! Gut jetzt! Ganz ruhig oder ich rufe die Polizei.“
Luis stöhnt innerlich auf. Äußerlich hört man es nicht. Zu seinem Erstaunen lässt sein Peiniger plötzlich von ihm ab. Er schüttelt den Kopf als sei er gerade zur Besinnung gekommen. Der andere Mann gibt den fixierten Arm ganz vorsichtig wieder frei, worauf der Angreifer sein Gesicht in den Händen verbirgt. So bleibt er stehen und rührt sich nicht mehr. Luis und der Passant sehen sich ratlos an. Auch der Autofahrer, der seinen Wagen bremsen musste, lauert darauf, was als nächstes passiert.
„Wenn Sie wollen, rufe ich die Polizei“, sagt sein Retter und hebt Luis’ Bomberjacke auf.
„Nein, nicht nötig. Er ist jetzt sicher wieder friedlich.“
„Fahren Sie trotzdem lieber gleich los. Hier: Ihre Jacke.“
Luis greift nach der Bomberjacke und nickt:
„Danke. Das war ganz schön mutig von Ihnen.“
„Schon gut. Ist ja nochmal gut gegangen.“
Luis steigt in sein Auto, während der Rest der Straße noch im Standbild verharrt. Als Luis losfährt, kommt langsam wieder Bewegung in die Szene. Der hilfsbereite Passant klopft dem Mann mit den Händen vorm Gesicht auf die Schulter und redet auf ihn ein. Auch der andere Wagen fährt weiter. Im Türrahmen seiner Reinigung steht Walter B. Dönges, der grimmige Inhaber, und schiebt sich die Lesebrille auf den Kopf. Er schaut Luis’ Audi nach:
„Eine Tracht Prügel hättest du schon mal verdient, mein Junge. …“
Dann notiert er Luis’ Kennzeichen auf dem Reinigungsbeleg. Man konnte ja nie wiessen. Auf die Ferne sieht Walter noch ganz gut.
Erst auf dem Rückweg merkt Luis, dass sein Herz unter der Lederjacke wild pumpt. Das war knapp! In seinem Kofferraum liegen die Pakete für den Kurierdienst und das Kuvert für Georg P. Das Ganze hätte mächtig ins Auge gehen können – nicht nur für ihn. Vielleicht war Ebay doch der bessere Platz für die Lederjacke? Luis fährt an die Seite, um die Jacke auszuziehen, unter der es ihm ordentlich heiß geworden ist.
„So, so, ein Miststück ist sie also, die Frau Doktor. …“
Es wundert ihn nicht. Etwas davon hatte tatsächlich in ihrem Blick gelegen. Diesmal nimmt Luis sich fest vor, Jim und seine Ärztin schnell voneinander zu trennen.
Nach seiner Station beim Kurierdienst ist Luis heute froh, mit leerem Wagen zurückzufahren. Eine seltsame Euphorie beflügelt ihn. Auf dem Rückweg leert er sein Postfach. Es enthält viele Geldkuverts. Genug, um einen Abstecher zum Juwelier zu machen, wo er eine Goldkette für Slava aussucht. 800 Euro blättert er dafür hin. Er selbst mochte kein Gold, aber Slava liebte es. Luis verstaut die Präsent-Schachtel in seiner Bomberjacke, wo er sonst die Rezeptblöcke versteckt. Die Lederjacke liegt auf dem Rücksitz seines Audis.
Als er zuhause ankommt, schenkt sich Luis ein großes Glas Wodka ein. Das macht er nur selten, aber heute hat er ihn sich verdient. Das Klingeln seines Handys ignoriert er. Heute ist er für niemanden mehr zu sprechen. Er legt sich auf sein Bett und nickt sofort ein. Das Handy hat er vorher stumm geschaltet.
Luis weiß nicht, wie lange er im Bett gelegen hat, als ihn die Klingel aus dem Tiefschlaf reißt. Benommen taumelt er zur Gegensprech-Anlage und fragt sich, ob er überhaupt reagieren soll. Doch jeder konnte sehen, dass sein Audi auf dem Parkplatz stand, und zu Fuß gehen ist nicht Luis‘ Sache. Also drückt er auf den Telefon-Knopf:
„Ja?“
„Herr Stöcker? Luis Stöcker?“
„Ja. Was ist los?“
Luis schwant Böses.
„Kriminalpolizei. Können Sie bitte die Tür öffnen?“
Plötzlich ist er hellwach:
„Kriminalpolizei? Worum geht’s denn?“
Am anderen Ende hört er Gemurmel. Dann die gleiche Stimme:
„Es geht um Ihren Bruder Jim. Können wir kurz reinkommen?“
Luis’ Gehirn fängt sofort an zu rattern. Mit so etwas musste er immer rechnen und er ist entsprechend vorbereitet. Trotzdem geht ihm der Arsch auf Grundeis.
Sechs Stockwerke hat er nun Zeit. Erste Aktion: den Aufzug nach oben rufen, damit die Polizisten ihn wieder nach unten holen mussten. Das würde ihm mindestens zweieinhalb Minuten verschaffen. Die Zeit hatten sie mit seinem Chronographen gestoppt. Häufig stiegen in den Stockwerken dazwischen Leute aus oder zu. Luis ärgerte sich ständig darüber, wie lange dieser beschissene Aufzug unterwegs war. Doch in diesem Fall kam es ihm zu Gute.
„Ja klar, kommen Sie rauf. Sechster Stock.“
Luis drückt den Türöffner und rennt zum Aufzug. Dann rast er nach hinten ins Wohnzimmer, wo er alle Rezeptblöcke in eine Kiste wirft, die für diesen Zweck neben dem Schreibtisch steht. Er trägt die Kiste hinter die Stahltür und schließt diese sorgfältig ab, bevor er den leeren Schrank davor schiebt. Das Zimmer sieht wieder nach einem normalen Wohnzimmer aus. Dass ein Fünftel davon fehlte, merkte niemand, der die Wohnung nicht in ihrem Original-Zustand kannte.
Jetzt die Kür: Luis kramt Papiere vom Arbeitsamt hervor.
„Verdammt! Wo ist das neue Schreiben vom Sozialamt? …“
Er drapiert die Briefe auf dem Schreibtisch, damit es nach viel Arbeit aussieht. Zum Glück hat Luis den Rechner heute noch nicht benutzt. Der Browser-Verlauf ist seit dem letzten Login gelöscht. Das machte er immer, bevor er den Rechner ausschaltete.
Zwei Minuten sind um, als die Polizisten an der Wohnungstür klingeln. Luis atmet tief durch und geht zur Tür, um sie zu öffnen. In seiner Brust hämmert es wie in einem Maschinenraum, doch äußerlich wirkt er tiefenentspannt. Die beiden Polizisten hingegen sind außer Atem, weil sie sich – einer Intuition folgend – für die Treppe entschieden haben und nun sechs Stockwerke hinter ihnen liegen.
„Herr Stöcker?“
„Ja. Kommen Sie rein.“
Luis tritt beiseite, um die Zivilbeamten in die Wohnung zu lassen. Den Männern scheint ihre Atemlosigkeit etwas unangenehm zu sein. Der Vordere hält Luis im Vorbeigehen seine Dienstmarke hin. Luis würdigt sie keines Blickes.
Hundert Mal hat Luis diese Szene im Kopf durchgespielt. Er lenkt die Herren sofort ins Wohnzimmer, vorbei an der Küche, deren Tür offen steht, was ihm peinlich ist. Die Türen zum Bad und zu Jims Zimmer sind geschlossen. Auf dem Weg ins Wohnzimmer werfen die Kommissare einen Seitenblick auf das zerwühlte Bett in Luis’ Zimmer.
„Sie haben mich geweckt“, erklärt Luis. Einer der Beamten nickt.
Im Wohnzimmer angekommen bittet Luis die Polizisten auf dem Sofa Platz zu nehmen, was sie auch gleich tun. Er selbst zieht sich den Schreibtisch-Stuhl heran, wodurch er höher sitzt als die Beamten:
„Also? Was ist mit Tim? Er ist doch noch in der Klinik – oder?“
Die beiden Männer sind froh, dass Luis gleich kooperiert.
„Ja, ist er. Im Moment wird er dort verhört.“
„Wie bitte? Worum geht es eigentlich?“
„Herr Stöcker, Ihr Bruder steht unter dem Verdacht, Rezeptblöcke in der Klinik entwendet zu haben.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Vermutlich wollte er es gerade tun, als er dabei erwischt wurde.“
Luis zieht die Augenbrauen hoch:
„Vermutlich? Was heißt das denn? Hat er nun oder nicht?“
Die Polizisten tauschen einen bedeutungsschwangeren Blick. Dann spricht der Wortführer weiter:
„Sagen wir mal so: Ihr Bruder hatte einen Rezeptblock seiner Ärztin in der Hand, als sie das Zimmer betrat.“
Luis streicht sich mit der Hand über seinen Schädel:
„Nochmal ganz langsam für mich zum Mitdenken: Tim hatte einen Rezeptblock in der Hand und war allein im Behandlungszimmer?“
„Korrekt. Aber nur kurz – bevor die Ärztin wiederkam.“
Luis stöhnt leise und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück:
„Da bin ich aber sehr froh, dass er nichts Schlimmeres in der Hand hatte. Sie wissen sicher, dass er drogenabhängig ist, weil sich unsere Mutter umgebracht hat. Er ist nicht umsonst in der Geschlossenen.“
Der Beamte nickt. Von dem zweiten Beamten kommt nichts.
„Ja, das wissen wir. Deshalb – oder vielmehr deswegen – besteht ja auch der Verdacht, dass Ihr Bruder den Rezeptblock an sich nehmen wollte. Die behandelnde Ärztin sagt, sie sei nur ganz kurz aus dem Zimmer gewesen, und dass in den letzten Wochen, seit Jim in der Klinik ist, häufiger Rezeptblöcke gefehlt hätten.“
Luis lacht ungläubig:
„So, sagt sie das? Das kann doch wohl nicht wahr sein!“
Die Beamten blicken sich an, als hätten sie telepathische Kräfte:
„Herr Stöcker, dürfen wir uns mal in Jims Zimmer umsehen?“
Luis verschränkt die Arme vor der Brust und beginnt, mit der Rückenlehne seines Bürostuhls zu wippen:
„Das ist ja wie im Kino. In Filmen fragen die Leute jetzt immer: Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, Herr Kommissar?“
Der Beamte sieht Luis tief in die Augen:
„Stimmt. Brauchen wir denn einen?“
Bei dieser Frage schnellt Luis nach vorne:
„Also wirklich, Herr …“
„Lensenroth. Kommissar Lensenroth.“
Der Kommissar holt eine Visitenkarte aus der Jackentasche und reicht sie Luis.
„Danke. Lassen Sie mich das bitte noch mal zusammenfassen, Herr Lensenroth: Mein drogenabhängiger Bruder, das arme Schwein, hat die Hand an einem Rezeptblock seiner Ärztin und niemand weiß, ob er ihn wirklich stehlen wollte. In diesem speziellen Fall vermute ich schon, dass Sie einen Durchsuchungsbefehl bräuchten. Klingt für mich nicht nach Gefahr im Verzug. Aber was soll’s. ich werde für Sie mal eine Ausnahme machen.“
Luis steht auf und geht zur Tür – froh, das Wohnzimmer verlassen zu können. Die Polizisten folgen ihm. Auf dem Weg zu Jims Zimmer betet Luis inständig, dass Jim ihre Abmachung einhielt und nichts, was auch nur den leisesten Verdacht erregen könnte, dort aufbewahrte. Luis öffnet die Zimmertür, aus der ihnen ein beißender Geruch entgegen schlägt. Luis weiß nicht, wie lange er Jims Zimmer nicht mehr betreten hat. Aber er nimmt sich fest vor, später gründlich zu lüften.
„Ich bin in der Küche“, meint Luis beiläufig. „Melden Sie sich, wenn Sie fertig sind.“
Die Beamten wirken überrascht:
„Alles klar, Herr Stöcker. Es wird nicht lange dauern.“
„Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich habe zu tun. – Kaffee?“
„Nein, danke. Sehr nett.“
Es ist offensichtlich, dass auch die Beamten sich nicht länger in Jims Mief aufhalten wollen als nötig.
Luis schlägt das Herz bis zum Hals. Wenigstens wurde die Küche so mal wieder aufgeräumt. Er lässt Wasser ins Becken laufen und schaut zu, wie der Schaum langsam den Geschirr-Berg erobert.
„Was für eine Scheiße! …“, stöhnt er leise.
Ein großer Teil des Geschirrs steht bereits im Abtropfsieb als die Beamten später hereinkommen. Luis schaut vom Spülbecken auf. Er hält einen Topf und die Spülbürste in den Händen. Morgen würde er endlich eine Spülmaschine kaufen.
„Wir sind fertig, Herr Stöcker. Zumindest vorerst. Sollten wir noch einmal wiederkommen müssen, haben wir selbstverständlich einen Durchsuchungsbefehl dabei.“
„Das will ich hoffen. Sie wissen ja, wo es raus geht. Schönen Tag noch.“
Nachdem die Beamten die Wohnung verlassen haben, wirft Luis den Topf und die Spülbürste ins dreckige Wasser zurück.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, brüllt er ihnen hinterher.
Als Nächstes musste er Slava anrufen. Sie haben vorsorglich einen Evakuierungsplan erarbeitet. Trotzdem kotzt es Luis an, dass er sich nun zu dessen Umsetzung gezwungen sieht. Er ist außer sich:
„Oh Mann, Jim, was hast du uns da für eine Scheiße eingebrockt!“
***
☎ „Slava?“
☎ „Ja, Luis? Was ist das für Nummer?“
☎ „Das ist das Handy mit der Prepaid-Karte.“
☎ „Oh, nein! Ist soweit.“
☎ „Ja, Slava. Es ist soweit.“
☎ „O.k.“
☎ „Eher nicht.“
„☎ Luis, mein Schatz? Alles o.k. bei disch?“
☎ „Bei DIR. … Ja, soweit.“
Slava merkt, dass Luis unter extremer Anspannung steht.
☎ „Ganz ruhisch Luis. Wir haben Plan.“
☎ „Ja, ich weiß.“
☎ „Du machst genau, wie Plan. Jetzt gleisch. O.k.?“
Luis nickt.
☎ „O.k., Luis?“
☎ „O.k., Slava.“
☎ „O.k. Bis gleisch.“
***
Eine Stunde später fährt Slava mit einem Kleintransporter vor dem Hochhaus vor. Mit zwei Frauen aus ihrem Team lädt sie alle Kisten ein, die Luis mittlerweile gepackt hat. Nach getaner Arbeit, setzt Slava ihre beiden Kolleginnen zwei Straßen weiter an der Bushaltestelle ab, wo Luis auf sie wartet. Er hat das Haus durch den Fahrradkeller über den Hinterhof verlassen. Der Audi steht auf seinem Parkplatz.
Am Abend haben Luis und Slava die Ladung des Transporters in der Erdgeschoss-Wohnung eines Zweifamilienhauses in Weiterstadt verstaut. Das Haus liegt zwanzig Minuten vor den Toren Darmstadts. Slava hat es vor kurzem mit Luis’ Hilfe von ihren Ersparnissen gekauft. Es war nicht teuer gewesen, weil sie in das lebenslange Wohnrecht der Vorbesitzerin hatte einwilligen müssen. Als sie die hinfällige Frau aus der oberen Etage kennenlernte, war ihr die Einschränkung als zeitlich zumutbar erschienen.
Direkte Nachfahren besaß die alte Hausbesitzerin nicht. Es gab nur einen angeheirateten Großneffen in München, der den Verkauf für seine Tante abgewickelt hatte. Eine freundliche Nachbarin sah hin und wieder nach der Alten und machte Besorgungen für sie. Sie wohnt im Haus gleich nebenan.
Slava besaß nur den Schlüssel zur unteren Wohnung. Einziehen wollte sie bisher noch nicht. Der Gedanke, mit einer sterbenden Frau unter einem Dach zu leben, bereitete ihr Unbehagen. Manchmal stellte sie ein paar Tüten und Kisten hier ab, wenn sie etwas Günstiges für ihren zukünftigen Haushalt ergattert hatte. Heute waren es ein paar Kisten mehr, die sie und Luis in die Wohnung trugen.
Als die freundliche Nachbarin den Hof betritt, fragt sie Luis erstaunt:
„Ach, zieht hier jetzt doch jemand ein?“
Luis schüttelt genervt den Kopf:
„Nein. Slava richtet sich nur ein Büro hier ein.“
So schnell lässt sich die Nachbarin nicht abwimmeln:
„Dann sind Sie also selbstständig?“, fragt sie an Slava gerichtet.
„Ja“, antwortet Slava. „Ist aber nur so Schreibkram.“
Die Neugier der Nachbarin ist damit noch nicht gestillt. Aber sie scheint zu merken, dass Slava ihr nicht mehr verraten will. Letztlich ging es sie ja auch nichts an.
Epilog
Da Jims Zimmer – bis auf ein paar abgelaufene Durchfallmittel – clean war und Jim während des Verhörs dicht gehalten hat, wird die Sache mit den Rezeptblöcken fallen gelassen. Die Klinik zieht die Anzeige zurück, weil die Ärztin Jim mag und sich um ihn sorgt. Außerdem hat sie gerade ganz andere Probleme.
Luis’ Webshop wird weiter gute Umsätze einspielen. Dank des neuen Lagers in Weiterstadt fühlen sich Jim und Luis sogar wohler in ihrer Wohnung. Sie beladen den leeren Wohnzimmer-Schrank mit Geschirr und Büchern für den Fall, dass doch mal eine Hausdurchsuchung drohen sollte. Es läuft.
Bis Jim sich zu viel Heroin-Ersatz in die Venen spritzt, den er aus abgelaufenen Durchfallmitteln zusammengepanscht hat. Luis wird es erst merken, als die Polizei wieder vor der Tür steht. Jim habe über Facelook einen Post mit dem Wortlaut
>Ich hab keinen Bock mehr auf den ganzen Scheiß! >>
abgesetzt. Einer seiner Freunde habe daraufhin die Polizei alarmiert. Bei dieser Gelegenheit stellt Luis fest, dass er nicht zu Jims Facelook-Freunden zählt. Gemeinsam mit der Polizei findet Luis seinen Bruder tot auf dem Bett. Die Beamten halten sich sofort Taschentücher vor Mund und Nase. Luis stört der Kotgestank nicht. Als Jims Tod eintrat, war Luis viel zu sehr mit der Neukunden-Anbahnung beschäftigt gewesen, um irgendwas von alldem riechen zu können.
Unterdessen richtet Slava ihr Versandhaus in Weiterstadt fertig ein. Weil die Sache mit Jim ihn so aus der Bahn wirft, vertraut Luis ihr auch den Paket-Versand an. Sie erledigt ihre Arbeit höchst gewissenhaft – argwöhnisch beäugt von zwei Nachbarinnen.