Prolog

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Wie alles begann

Am Morgen des 24. April 2012 ereignete sich in der Frankfurter U-Bahn-Station #Alte-Oper ein tragischer Unfall mit Personenschaden. Ein Zug war nicht daran beteiligt. Nur ein Mann, der auf dem Weg ins Büro mit einer Passantin kollidierte. Der heftige Zusammenstoß hatte zur Folge, dass beide ihr Leben gründlich überdenken mussten, denn er brach der einen das Rückgrat und dem anderen das Genick.

Zum Zeitpunkt der Kollision befand sich der Mann sowohl im U-Bahn-Schacht als auch beruflich auf der Treppe nach oben, und die junge Frau stand ihm im Weg. Sein unrühmliches Verhalten infolge des Unfalls ließe sich bestenfalls mit übertriebenem Ehrgeiz rechtfertigen. Tatsächlich spiegelte es seine verschrobene Einstellung zum Leben im Allgemeinen und zu den Menschen im Besonderen wider. Hass war noch nie ein gesunder Motor.

Die Wurzel seines Hasses lag im Moment des Zusammenstoßes viele Kilometer entfernt in einem Berliner Krankenhaus-Bett und grämte sich, dass ihr Sohn nicht erreichbar war. Obwohl sie von dem Unfall nichts ahnte, den ihr Anruf auf dessen Handy verursachte, kann man Freja Anderson als den Stein betrachten, der die Sache vor 40 Jahren ins Rollen gebracht hatte. Ihre Geschichte muss am Anfang stehen.

(1) Freja-61-Mutter

Die Geschichte reicht zurück bis in die Siebziger. Da hatte sich Freja, zwanzig Jahre jung und fern ihrer Heimat Oslo, einer spontanen Laune hingegeben. Die Laune hieß Kai Bertram: ein attraktiver Mann in den Dreißigern mit Geschäftssitz in Berlin und Gattin in Düsseldorf. Kais Schwiegervater besaß eine Kaufhaus-Kette für Oberbekleidung. Nach dem Krieg investierte er im großen Stil.

Als Freja ihm begegnete, kümmerte sich Kai um die Berliner Filiale. Gleichzeitig hoffte seine Frau, in Düsseldorf von ihm schwanger zu werden. Doch Kai hatte es nicht eilig. Er schätzte die Freiheiten seines Nomadenlebens, und Freja zählte er dazu. Er pflückte sie wie eine Blume von einem der Laufstege herunter, auf denen sie sich mit ihrer kantigen Schönheit etwas Geld zum Stipendium hinzuverdiente.

Das Stipendium hatte Frejas Chorleiter Bjarne Nilsson vermittelt, indem er seinen heißen Draht zum Julius-Stern-Institut in Berlin nutzte. Bjarne bediente sämtliche Klischees eines kirchlichen Chorleiters: Er war exzentrisch und nicht-bekennend schwul. Als leidenschaftlicher Romantiker behauptete Bjarne, Trolle hätten Frejas Stimmbänder bei Neumond aus feuchtem Moos geflochten. Ihr Timbre brachte seine alte Wikinger-Seele zum Schwingen. Mit viel pädagogischem Geschick hatte Bjarne diese Bänder durch die Pubertät manövriert. Er hätte ihnen nichts mehr beibringen können, und der Gedanke, dass diese Urgewalt in Oslo verstummen könnte, erschien ihm unerträglich. Bjarne hielt es für seine Pflicht, Frejas Stimme den nötigen Raum zu verschaffen, indem er ihr zur Flucht verhalf: hinaus aus einem streng lutherischen Elternhaus, hinein in den Äther einer Kunst-Metropole, durch die sich seit einiger Zeit die bekannteste Mauer der westlichen Hemisphäre zog.

So war Freja eines Nachts mit dem alten Seesack ihres Vaters durch das Fenster des Kinderzimmers getürmt, das sie sich mit zwei Geschwistern hätte teilen sollen, bis ein heiratswilliger Lutheraner für sie gefunden wäre. Sie hinterließ nur eine Notiz auf dem Kopfkissen, damit ihre Eltern im Bilde waren. Bjarne wartete mit dem Auto an der Straßenecke und brachte Freja direkt zum Bahnhof.

Während sie die Zugfahrt nach Berlin verschlief, stahl Frejas Bruder Sverre den Zettel vom Kopfkissen und versenkte ihn tief in seiner Hosentasche. Seinen Eltern und der Polizei gegenüber blieb er stur bei der Aussage, nicht die leiseste Ahnung vom Verbleib seiner Schwester zu haben. In gewisser Weise stimmte das sogar: Berlin war groß, und wer wusste schon, ob Freja jemals dort angekommen war? Selbst der tiefe Kummer seiner Mutter konnte Sverre nicht erweichen. Im Stillen genoss er, wie deren Gedanken einmal nicht um seinen jähzornigen Vater kreisten. Den wiederum bekümmerte der Verlust seines Seesacks viel mehr als das Verschwinden seiner gottlosen Tochter.

Der Seesack war ihm heilig – ein Zeugnis seiner Heldengeschichte: damals, 1940, bei der Seeschlacht vor Narvik. Blutjung hatte er sich mit seiner Fregatte dem Angriff der deutschen Wehrmacht entgegen gestellt. Diese zerfetzte mit zwei Torpedos das Küstenpanzerschiff, auf dem Herr Anderson diente. Seine rechte Hand und der größte Teil der Besatzung gingen dabei über Bord, weshalb er mit der Linken doppelt so hart zuschlug. Die Kinder kannten sie gut, die #linke-Hand-Gottes, dem Herr Anderson sein Leben zu schulden glaubte.

Freja hinterließ ein eitriges Loch in der Familie. Die Wunde heilte nie. Doch Vater Anderson wurde zahmer und ging mit den verbliebenen Kindern pfleglicher um. Sverre heuerte später als Pressesprecher bei einem großen Ölkonzern an. Er wusste immer, wann es für alle besser war, einen Informationsschnipsel verschwinden zu lassen.

Am Julius-Stern-Institut merkte Freja schnell, dass der Musikhimmel nicht voller Geigen hing. Die Konkurrenz war erdrückend. Über ihr kreiste eine Rotte feingeistiger Aasgeier, die darauf wartete, dass ein anderer umfiel. Nur so konnte jemand nachrücken.

Dieser Druck duldete keine Ablenkung. Als Freja das erkannte, war es jedoch zu spät. Der Luxus, mit dem Kai ihr Leben flutete, hatte sie eingelullt und träge gemacht. Nach einem Monat beklagte sie sich:
„Wir müssen damit aufhören.“
Sie hielten es eine Woche durch, dann machten sie weiter wie zuvor.
Nach zwei Monaten sagte Freja:
„Lass uns das endlich beenden.“
Doch zwei Tage später fingen sie von vorne damit an.
Nach drei Monaten sagte Freja:
„Dann trenne dich von deiner Frau.“
Doch Kai beließ alles, wie es war.
Nach vier Monaten sagte Freja:
„Wenn du sie nicht verlässt, muss ich eben gehen.“
Doch niemand ging irgendwo hin.
Nach fünf Monaten sagte Freja:
„Ich bin schwanger.“
Und Kai fiel aus den Wolken:
„Nimmst du denn keine Pille?“
„Doch. Aber vielleicht habe ich sie mal vergessen.“

Auch wenn dieser Unfall jeden Zweifel an seiner Zeugungsfähigkeit Lügen strafte: Als Beweis konnte er ihn schlecht anführen. Die Sache musste aus der Welt geschafft werden, bevor in Düsseldorf jemand Wind davon bekam:
„Lass es wegmachen, Freja. Ich helfe dir dabei.“
„Um Gottes Willen, Kai! Das ist eine Todsünde.“
„Mit einem verheirateten Mann zu schlafen etwa nicht?“
„Darf ich dich daran erinnern, dass du dein Gelübde gebrochen hast, nicht ich. Was hast du im Gegensatz zu mir schon zu verlieren? Eine kaputte Ehe. Ich muss mich von meinem Lebenstraum verabschieden.“
„Musst du nicht. Lass es einfach wegmachen.“
„Auf keinen Fall! Wir müssen das irgendwie hinbekommen.“

Das #Irgendwie war der Anfang vom Ende. Kai mietete eine Wohnung in Charlottenburg und zog nicht mit ein:
a) Weil er grundsätzlich lieber alleine schlief.
b) Weil er weiterhin selbst entscheiden wollte, wann und mit wem er nicht alleine schlief.
c) Weil er jeden Abend vom Hotel aus seine Frau anrufen musste, damit sie keinen Verdacht schöpfte. Glücklicherweise interessierte sich Corinna Bertram kein bisschen für die ehelichen Finanzen.

Das Kind wurde geboren und erhielt den Namen Peer. Kai zahlte, während Freja sich in ihr Schicksal fügte. Andere Mütter mieden sie wie eine Virusinfektion. Selbst in den wilden Siebzigern stand eine ledige Mutter noch unter Generalverdacht. Die Welt war nicht bereit für einen Bastard wie Peer. Deshalb entschied Freja, ihn von guter Gesellschaft erst mal fernzuhalten. Sie tat es zu seinem Besten.

Peer fiel zunächst gar nicht auf, dass die Dinge bei ihm anders liefen als bei anderen Kindern. Er kannte ja keine. Nie besuchte ihn jemand, nie lud ihn jemandem zu sich nachhause ein. Peers Leben bestand darin, mitten in einer Großstadt wie Berlin als Fixstern seiner Mutter vor sich hinzuexistieren.

Kai kam und ging nach Belieben und brachte ihm teure Geschenke mit. Einmal überraschte er seinen Sohn mit einem roten BMX-Rad – eines der ersten, die den großen Teich überquerten. Selbstvergessen kurvte Peer damit durch die Straßen seines Viertels, wo er die anderen Kinder aus sicherer Entfernung beobachtete.

Dann kam der Tag, an dem Kai von seinem Schwiegervater zu einer vertraulichen Unterredung einbestellt wurde:
„Bei allem Verständnis unter uns Männern – und glaube mir, ich weiß genau, wovon ich spreche, Kai: Sieh zu, dass du deinen Arsch nach Düsseldorf zurück verfrachtest und endlich wieder Ordnung in dein Leben bringst. Von all dem, was ich über die Situation in Berlin weiß …“
(Kai fragte sich, von wem?)
„… braucht außer uns beiden niemand etwas zu erfahren. Ich bitte sogar darum. So etwas regelt man finanziell. Geh zu unserem Anwalt. Er wird einen Vertrag mit dir aufsetzen. Glaubst du, ich will ewig auf Enkel warten. Offensichtlich steht dem ja nichts im Wege. Was ist an meiner Tochter verkehrt? Sie ist hübsch und hat genau den gleichen Eingang zwischen den Beinen.“
Da Corinna zudem Geld besaß, befolgte Kai, was sein Schwiegervater von ihm verlangte. Im Grunde machte es alles leichter. Dennoch blieb die Ehe kinderlos.

Freja kehrte nie zu ihrer Familie zurück. Sie wusste, dass ihre Eltern vor Scham lieber im Moor versunken wären. Es schien besser für alle, wenn sie verschollen blieb. Sie weinte lange, gab die Hoffnung aber nie auf, dass Kai zur Vernunft kommen und zu ihnen zurückfinden würde.

Als Frejas Tränen versiegten, trocknete sie aus. Sie schrumpelte in sich zusammen wie eine welke Blume. Niemand kam auf die Idee, dass Freja mal eine sehr schöne Blume gewesen sein könnte. Es gab keinen anderen Mann mehr in ihrem Leben. Außer Peer.

(2) Ralf-63-Unternehmer

Während Freja traurig im Krankenhaus-Bett saß und ihren Sohn auf dem Handy zu erreichen versuchte, setzte Ralf Ludger den Blinker. Er musste am Frankfurter Westkreuz Richtung Messe abbiegen.

Seit fünf Uhr morgens war er unterwegs. Viereinhalb Stunden Fahrt im Regen lagen hinter ihm und alles, woran er gerade denken konnte, war eine heiße Tasse Kaffee. Dabei erwarteten ihn weit wichtigere Dinge im Büro des Consulting-Unternehmens, das er mit dem Verkauf seiner Firma beauftragt hatte: ein Käufer, ein unterschriftsreifer Vertrag und ein Notar.
„Sicher gibt es auch noch Champagner zum Anstoßen. Als ob dieser verdammte Tag ein Grund zum Feiern wäre …“, grummelte Ralf Ludger an seinem Lenkrad vor sich hin.

Langsam quälte er sich auf der Miquelallee voran – froh, dass gerade keine Messe war. Das merkte man auch an den Hotelpreisen. Eine Woche früher hätte er locker das Doppelte für einen Abend mit seiner Tochter bezahlt. Da Theresa heute endlich ihre Master-Thesis abgeben würde, konnte er die beiden Anlässe gut miteinander verbinden.

„Bestimmt hat sie die Frist bis zum Anschlag ausgereizt. Wie immer. Unter Druck funktioniert Theresa am besten. Gute Eigenschaft für eine erfolgreiche Unternehmerin. Was für eine Verschwendung! Sie hätte ihr eigenes Unternehmen leiten können. Mein Unternehmen! ….“
In Ralf kochte die Wut leise vor sich hin. Jetzt musste er seine Firma in fremde Hände geben, um noch ein paar gute Jahre mit seiner Frau zu haben. Vor kurzem hatten sie Ralfs Arthrose wegen ein schönes Haus auf Teneriffa erworben.

Leider war Ralfs Plan, die RAUL Quarz AG einmal seinen Kindern zu übertragen, nicht aufgegangen. Auch er hatte die Firma vom Vater übernommen und dann groß gemacht. Die Branche boomte nach wie vor. Das Unternehmen würde auch in Zukunft genug abwerfen, um allen Ludgers ein gutes Auskommen zu bescheren. Doch die Kinder konnten seine Leidenschaft für Quarz-Oszillatoren nicht teilen.

Die Praxis seiner Frau war versorgt. Jobst, ihr Ältester, hatte sich früh als würdiger Nachfolger entpuppt. Mit sieben Jahren hatte er seiner Mutter ein altes Dental-Besteck abgerungen, unter dem seine jüngere Schwester fortan leiden musste. Ihre Schreie gellten durch das Haus, wenn Jobst auf Theresas Brustkorb saß und ihre Arme mit den Knien fixierte, um besser in ihre Mundhöhle eindringen zu können. Es war schwer gewesen, bei diesem Anblick pädagogisch wertvoll zu handeln. Am liebsten hätte Beate Ludger laut über ihren Sohnemann gelacht.

Theresa wiederum war Ralfs Augapfel gewesen. Nach der Schule hatte sie sich ihm zuliebe durch zwei Semester BWL gequält und dann doch das Handtuch geworfen. Ein Bürojob kam für sie nicht infrage. Theresa war ein Wildpferd, das viel Bewegung brauchte. Man konnte bei ihr nichts erzwingen und so hatte er die Leine gelockert, um sie studieren zu lassen, was ihr am Herzen lag. Nun konnten sie auch dieses Kapitel endlich abschließen.

Ralf quälte sich auf der Theodor-Heuss-Allee voran. Einer Consulting-Firma Geld in den Rachen zu werfen, hatte ihn große Überwindung gekostet. Für ihn waren das alles parasitäre Sekten. Wie Eier legten sie ihre Berater in den Chef-Etagen von Kunden ab und warteten darauf, dass sie sich dort zu neuen Führungskräften verpuppten. Als solche beauftragten diese gerne ihre Exkollegen mit kostspieligen Projekten. So wurden langfristige Beratermandate gesichert. Eine hocheffiziente Versorgungskette.

#Alumni wurden für solche Dienste fürstlich belohnt: hier ein nettes Golf-Wochenende, dort ein kleines Hauben-Menü oder ein Kistchen Grand Cru für den Weinkeller. Isolierte man sie von ihrem Clan, kamen sie hilflos ins Trudeln wie glattgespültes Schwemmholz im Wildbach.

Ralf kannte genügend Bilanzen mit grotesken Beraterhonoraren auf der Aufwandsseite. Er hatte selbst mal eine veröffentlichen müssen, als er vor Jahren den rosigen Prognosen eines neuen Abteilungsleiters auf den Leim gegangen war. Zwei echte Heißsporne hatten sie ihm geschickt. Die erste Woche waren sie noch den Anweisungen eines teuren Management-Consultants gefolgt, obwohl auch sie alles besser wussten.

Mit schwer nachvollziehbarem Selbstvertrauen hatten sie ab Woche zwei die Zügel alleine in die Hand genommen. Das brachte den Betrieb fast zum Erliegen. Die eigentliche Arbeit wurde von Excel-Tabellen und Powerpoint-Folien verdrängt, die seine Mitarbeiter ständig mit frischen Daten speisen mussten. Zwei seiner besten Leute waren in dieser Zeit zur Konkurrenz gewechselt, weil sie nicht verstanden, warum ihr Chef ihnen neuerdings diese Kettenhunde auf den Hals hetzte:
„Sicher gibt es einiges zu verbessern hier. Aber warum denken Sie, dass wir das nicht alleine hinbekommen? Ideen haben wir wirklich genug. Bisher schien sich nur niemand dafür zu interessieren.“
Er konnte ihre Entscheidung nicht mehr revidieren. Als der Dritte kündigen wollte, schickte Ludger die Berater wieder heim und schrieb den Schaden ab.

Aber mit M&A-Geschäften kannte Ralf sich nicht aus. Es war ihm wichtig, einen anständigen Käufer für die RAUL Quarz AG zu finden. Das schuldete er seinem Vater und den älteren Angestellten.

Um die jungen Leute machte Ralf sich keine Sorgen. Sie waren anders. Sie waren weniger loyal. Der #War-for-Talents, der im Technologie-Sektor tobte, spielte ihnen in die Karten. Sie verlangten erst einmal viel von ihren Arbeitgebern, bevor sie ihre Leistung unter Beweis stellten: ein Aktienpaket, ein Handy, die Möglichkeit, im Home Office zu arbeiten oder ein Sabbatical zu machen, und natürlich die Aussicht auf einen baldigen Führungsposten. Ludger wurde schwarz vor Augen, wenn er an diese Jungbullen dachte. So schwer es ihm fiel, da stieg er lieber vorher aus. Das war nicht mehr seine Welt.

Wenigstens war er all die Jahre sich selbst und dem treu geblieben, was er seinem Vater Raul in die Hand versprechen musste.
„Sieh zu, mein Junge, dass du dein eigener Herr bleibst …“, hatte Raul Ludger gepredigt. „Lass dir von keinem sagen, was du zu tun oder zu lassen hast. Vertraue deinem Bauchgefühl mehr als jedem Befehl.“

Nach diesem Rat war Raul Ludger minutenlang in einen tranceartigen Zustand versunken. Von außen sah man, wie hinter der reglosen Fassade die Erinnerungen tobten. Dann spürte Raul das Vibrieren des Schiffsbodens wieder unter seinen Füßen. Der beißende Geruch des ammoniakhaltigen Putzwassers stach in seiner Nase, und die Stimme des Kommodore wehte aus dem Jahr 1940 zu ihm herüber:

„Ludger? … Mensch, wo ist denn bloß unser Jüngster? …“
„Hier, Kommodore. Hier bin ich.“
Raul Ludger richtete sich auf und wischte die nassen Hände an seinen Hosenbeinen ab. Er war damit beschäftigt, die Linoleum-Böden der Kommando-Brücke zu schrubben.
„Wie viel haben Sie vom Krieg schon gesehen, Ludger? …“
„Nicht viel, Herr Kommodore. Ich komme vom Land und bin gerade erst eingezogen worden.“
„Und dann gleich Norwegen. Schöne Sache. Wie alt sind Sie? …“
„Siebzehn, Kommodore.“
„Das ist alt genug. Kommen Sie mal her. Schnell.“
Raul eilte, um den Wunsch des Kommodore zu erfüllen.
„Zur Stelle, Kommodore! …“
„Gut. Sehen Sie diesen Hebel, Ludger? …“
„Jawohl, Kommodore! …“
„Dann legen Sie den mal um.“
Zögernd betrachtete Raul den eisernen Hebel:
„Was ist das für ein Hebel, Kommodore? …“
„Fragen Sie nicht so viel, machen Sie einfach, was ich Ihnen sage, Ludger. Schnell! …“
Raul scheute zurück wie ein Pferd. Der Kommodere schrie ihn an:
„Worauf warten Sie denn noch? Das ist ein Befehl! …“
Raul gehorchte. Aber nichts geschah. Er blickte den Kommodore an.
„Nicht mich angucken, Ludger. Sehen Sie nach vorne, verdammt! …“
Raul folgte dem Finger des Kommodore und blickte aus dem Fenster des Zerstörers, mit dem seine Flotte vor Narvik lag. Einen Moment später explodierte der Rumpf des norwegischen Küstenpanzerschiffs, das sich zwischen Hafen und Zerstörer geschoben hatte. Das Schiff ging sofort in Flammen auf. Brennende Besatzungsmitglieder sprangen über Bord. Die Motoren dröhnten zu laut, um ihre Schreie zu hören. Wie gelähmt starrte Raul auf das Stummfilm-Inferno und der Kommodore klopfte ihm lachend auf die Schulter:
„Gut gemacht, Ludger. Treffer und versenkt. Jetzt sind auch Sie ein richtiger Soldat. Stehen Sie hier nicht unnütz herum. Schrubben Sie endlich das Deck weiter.“

Mit jedem Meter, den Ralf sich ins Frankfurter Westend vorkämpfte, rückte das Ende seiner Unternehmer-Geschichte näher.
„Zum Glück muss mein Vater das nicht mehr erleben. Unglaublich, dass dieser Tag wirklich gekommen ist.“

Das Navi forderte Ralf auf, 150 Meter weiter vorn links abzubiegen. Er würde es auf keinen Fall pünktlich schaffen. Seine Assistentin musste den M&A-Berater, der sich um den Verkauf seiner Firma kümmerte, über die Verspätung informieren. Ludger gab ihr die Anweisung telefonisch durch. Dann wählte er die Handynummer seiner Tochter. Er wollte sicher gehen, dass sie an diesem wichtigen Tag nicht verschlief.
„Zuzutrauen wäre es ihr.“

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