Peer-40-Management-Consultant
Frankfurt am Main, 24. April 2012
Peer steht vor dem Badezimmer-Spiegel seiner Frankfurter Westend-Wohnung: 160 Quadratmeter sanierter Stilaltbau mit Parkett, zwei Balkonen und Stuck an der Decke. Kritisch mustert er sein unrasiertes Gesicht im vollen Bewusstsein, dass man ihn als überdurchschnittlich attraktiv bezeichnen würde.
„Wenigstens das haben sie hinbekommen, diese dämlichen Versager. Den Rest haben sie ja gründlich verbockt.“
Netter denkt er nie an seine Eltern. Sprechen will er nicht über sie.
Peer ist ein erfahrener Management-Consultant und arbeitet bei einer renommierten Beratungsgesellschaft. Seine Branche zählt ihn zu den Besten, wenn es darum geht, Firmen zu verschmelzen oder Imperien zu zerschlagen. In Fachkreisen wird er unter dem Namen #M&Auräne gehandelt. Sein Jagdschema: spannende Übernahme-Kandidaten aus der Deckung heraus beobachten, zum richtigen Zeitpunkt vorstoßen und schlucken. Sein Spezialgebiet: Mittelstand. Sollten andere ruhig die großen Klinken putzen, die interessierten Peer nicht. Sein Traum ist es, irgendwann mal eine eigene Firma zu besitzen. Dieser Traum steht ganz oben auf Peers Bucket-List. Bis dahin würde er geduldig Geld anhäufen und auf einen Leckerbissen warten.
Peer mag sein Leben auf der Überholspur. Er ist Foresquare-Major in Frankfurts angesagtestem Café und international über LinkedIn und Facelook vernetzt. Vor allem mit Menschen, von denen er denkt, dass sie ihm einmal nützlich sein könnten. Er beobachtet sie, postet selbst aber nichts. Trotzdem scheint sein Motor gerade zu überhitzen. Rote Äderchen durchziehen das sonst so makellose Weiß seiner Augäpfel.
Die letzte Nacht ist kurz und hitzig gewesen für sein Team, wie immer vor dem großen Finale eines Deals. Bisher hat Peer solche Nächte mit ähnlicher Leichtigkeit weggesteckt wie eine der Glamour-Partys, die in seinen Kreisen gern gefeiert wurden. Das Adrenalin in seinem Blut sorgte für einen klaren Kopf und einen frischen Teint. Doch in letzter Zeit scheint sein Motor schneller zu überhitzen. Schwarze Augenringe zeigen, wie müde er ist. Das kann er sich nicht leisten, wenn er seinen Mandanten den Vertrag zur Unterschrift vorlegt. Manchmal bekam einer in letzter Minute noch kalte Füße. Ein Albtraum, der ihm bis jetzt erspart geblieben ist. So sollte es möglichst bleiben.
Hektisch kramt Peer im Badezimmer-Schrank:
„Irgendwo muss doch diese Creme sein, die mir meine einfallslosen Kollegen zum Vierzigsten geschenkt haben. Hoffentlich habe ich sie nicht am gleichen Tag noch entsorgt.“
Im obersten Regal, hinter Aspirin und Wattestäbchen, wird er fündig. Peer öffnet die edle Schachtel, die einen silbernen Dosierspender enthält. Nach mehrmaligem Pumpen spuckt das Ding eine hellblaue Emulsion in seine Hand. Peer verteilt sie im Gesicht und sucht nach einer Gebrauchsanweisung. Er muss die Packung etwas von sich fernhalten, um die kleine Schrift lesen zu können:
10 Minuten einwirken lassen, dann mit Wasser abspülen.
So lange will er sich sein Spiegelbild nicht zumuten. Er schlendert in die Küche und angelt einen Becher Sojamilch aus dem Kühlschrank.
Zurück im Schlafzimmer setzt er sich auf das Fußende seines Bettes. Auf dem großen Monitor läuft Reuters-TV: ein Bericht über eine am Vortag geplatzte Fusion. Das hatte gestern schon die Runde gemacht. Peer grinst gehässig, öffnet den Aludeckel und setzt den Becher an. Der eigenartige Geschmack warnt ihn davor, den Inhalt seines Mundes an den Magen zu übergeben. Misstrauisch untersucht er den bunten Aufdruck und schüttelt den Kopf:
„Warum kauft diese blöde Putzfrau neuerdings Sojamilch mit Schoko-Geschmack? Unglaublich! Die braucht mal wieder eine Kopfwäsche.“
Er greift nach dem Handy, das auf dem Nachttisch liegt, doch die Putzfrau geht nicht ran. Peer hinterlässt keine Nachricht. Stattdessen wendet er sich wieder dem Fernseher zu.
„Morgen wird Reuters über unseren Deal berichten. Dann sollte meiner Beförderung zum Partner eigentlich nichts mehr im Weg stehen.“
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen leert Peer den Becher bis auf den letzten Schluck. Mit etwas gutem Willen konnte man sich an den Geschmack sogar gewöhnen.
***
Als ihm die RAUL Quarz AG ins Auge gesprungen war, hatte er schon beim ersten Sondierungsgespräch nach einem Informanten aus dem direkten Umfeld des Firmeninhabers gesucht. Insider-Informationen waren immer noch die besten und eine gründliche Recherche gehörte nun mal zum Job. Dieser ganze Compliance-Quatsch bedeutete auch nur eine weitere Challenge.
Esther Hartung-Breuer – Ludgers neue Assistentin – war ehrgeizig und unsicher genug, um sich von einem Profi wie Peer einlullen zu lassen. Sie besaß diese wunderbare Mischung aus Anerkennungssucht und Selbstzweifel, die Menschen oft Dinge tun ließ, für die sie sich später manchmal schämten.
Ralf Ludger hingegen zählte zu einer aussterbenden Unternehmer-Spezies mit tradierten Wertvorstellungen. Das Wohl seiner Firma und seiner Belegschaft lag ihm persönlich am Herzen. Externe ließ er da nur ungern ran. Offenbar hatte er schon einmal schlechte Erfahrung gemacht. Das ließ er häufig anklingen.
Dass Ludger auch sonst mit Lob eher geizte, spielte Peer in die Karten. Esther zeigte sich hoch empfänglich für seine Schmeicheleien. Schnell war sie bereit, ihrem Frust beim Cocktail ein wenig Luft zu machen. So erfuhr Peer auch von den gesundheitlichen Problemen ihres Chefs und dessen familiären Hintergründen. Besonders belastete ihn wohl, dass seine alte Garde wegbröckelte – Ludgers Wegbegleiter der ersten Stunde. Gemeinsam mit ihnen hatte er die Firma zu dem gemacht, was sie heute war: ein echtes Juwel. Die jüngeren Kollegen konnten diese Löcher unmöglich stopfen.
Peer wusste immer, wie weit er beim Schmusekurs gehen durfte, ohne den gebührenden Mindestabstand zu unterschreiten – beruflich wie privat. Mit Frauen konnte Peer nichts anfangen. Nähe blockierte ihn. Er bekam schlechte Laune davon. Das ließ er die Frauen auch spüren. Es dauerte nie lange, bis sie von alleine wieder abzogen. Noch nie hatte er eine wegschicken müssen.
Für seine leiblichen Bedürfnisse gab es das Internet: 24/7-Sex auf Knopfdruck – das war genau nach Peers Geschmack. Echte Haut machte ihm nun mal Angst, und manche Dinge erledigte man ohnehin besser selbst. Peer ahnte, dass seine Mutter sich deswegen grämte. Aus ihren peinlichen Fragen schloss er, dass sie fürchtete, ihr einziger Sohn könne schwul sein. Wie alle älteren Damen wünschte Freja sich nur Enkelkinder. Auf die Schwiegertochter hätte sie auch verzichten können. Doch Kinder standen nicht auf Peers Bucket-List und seine Mutter grämte sich ohnehin ständig wegen allem. Da kam es auf ein paar Enkel auch nicht mehr an. Zum Glück wohnte Freja weit genug weg. Sie telefonierten nur an den Geburtstagen.
Auch Freja hielt Peers Karriere für das Wichtigste im Leben. Daher behelligte sie ihren viel beschäftigten Sohn nur selten mit ihren Fragen. In den letzten Jahren hatte Peer seine berüchtigte Spürnase auf Firmen mit Nachfolge-Problemen ausgerichtet. Selbst wenn es Erben gab, fehlte denen häufig der Biss, ein Unternehmen zu führen. Peer konnte das nicht nachvollziehen, aber umso besser für ihn. Ihm würde keiner eine Firma auf dem Silbertablett servieren. Er musste sich alles selbst erarbeiten. Peer war der Sohn, von dem viele Unternehmer träumten. Ihm fehlte lediglich der passende Vater.
Dass Peer irgendwie #anders war, fiel schon in der Schule auf. Deshalb mieden ihn seine Klassenkameraden, wenn möglich. Es störte ihn nicht, er brauchte niemanden. Menschen und Wörter lernte Peer erst später richtig zu nutzen. Peers Welt waren die Zahlen. Bereits in der sechsten Klasse hatte er gelernt, dass sich daraus Kapital schlagen ließ. Seine Mathe-Hausaufgaben abschreiben zu dürfen, kostete erst nur Süßigkeiten, die liebende Mütter ihren Kindern in den Schulranzen packten. Später tauschte er sein Wissen gegen Spielsachen oder einen teuren Füller und schließlich Bares ein. Peer dealte auf dem Schulhof mit seiner Intelligenz, bis die Schulleitung ihn stoppte.
Sie zitierten Freja in die Schule und rieten der verdutzten Mutter, dem Fremdkörper-Dasein ihres Sohnes ein Ende zu bereiten, bevor er sich auf dem schiefen Pfad weiter voran arbeiten konnte:
„Peer gehört auf eine andere Schule. Er langweilt sich hier zu Tode. Wir wissen, dass solche Schulen sehr teuer sind. Aber bevor wir einen Schulverweis aussprechen, raten wir Ihnen, Peer zu einem Test dort anzumelden. Hier bleiben kann er jedenfalls nicht.“
Als Peer später nachhause kam, hatte Freja sein Zimmer bereits auf den Kopf gestellt und diverse Gegenstände sichergestellt, deren Herkunft ihr zweifelhaft erschien. Peer tobte wie eine erboste Elster und bekam postwendend Frejas Linke zu spüren – zum ersten Mal in seinem Leben. Sein Gesicht stand sofort in Flammen und der blanke Hass funkelte in seinen Augen. Entsetzt hielt Freja sich die Hand vor den Mund:
„Oh Liebling, das habe ich nicht gewollt.“
„Warum hast du es dann getan?“
„Du hast mir keine Wahl gelassen.“
„Wieso? Du hättest auch einfach stolz auf mich sein können.“
„Worauf hätte ich bitteschön stolz sein sollen? Mein Sohn nimmt seine Mitschüler aus wie die Weihnachtsgänse.“
„Aber sie wollten es doch so. Niemand würde für meine Hausaufgaben bezahlen, wenn ich nicht so gut wäre.“
„Oh lieber Gott, Peer! Du wirst dafür von der Schule fliegen. Hat dein Taschengeld nicht gereicht? Warum sprichst du nicht mit mir, bevor du einen derartigen Blödsinn verzapfst? Wozu brauchtest du das Geld?“
„Zu gar nichts. Ich habe es auf mein Sparbuch eingezahlt, genau wie mein Taschengeld.“
„Wie bitte?“
„Ich hebe das für später auf.“
Freja schüttelte ungläubig den Kopf:
„Morgen gehen wir beide zur Bank und heben alles ab. Dann gibst du es deinen Schulkameraden zurück.“
„Ich denke gar nicht daran“, erwiderte Peer aufgebracht. „Dann wird mich keiner mehr ernst nehmen. Ich weiß ja auch gar nicht mehr, wer mir wann wieviel gegeben hat.“
„Das ist mir egal.“
„Aber wenn ich doch ohnehin von der Schule fliege, kann ich das Geld doch auch behalten.“
„Kommt nicht infrage.“
Freja blieb hart und Peer überreichte das Geld der Schulleitung, die es einem guten Zweck zuführte. Im Gegenzug stellte sie für Peer ein Empfehlungsschreiben aus und vermittelte ein Vorstellungsgespräch bei einer Schule für Hochbegabte.
Sein Vater nahm den Zwischenfall gelassener hin. Er konnte sich ein stolzes Grinsen nicht verkneifen und erklärte sich sofort bereit, die neue Schule zu finanzieren. Schließlich sprachen da seine Gene aus dem Kind. Wie die Dinge standen, war eine gute Ausbildung das Einzige, was Kai Bertram seinem unehelichen Sohn noch mit auf den Weg geben konnte, bevor er aus dessen Leben verschwand.
Peer bestand den Test. Kai sammelte ihn mit seinen Koffern zuhause ein und lieferte ihn persönlich im Internat ab. Er erlaubte nicht, dass Freja sie begleitete, was Peer nur recht war. Er wollte sie so schnell und weit wie möglich hinter sich lassen. Beim Abschied legte Kai ihm väterlich die Hand auf die Schulter:
„Versprich mir, dass du was aus dir machst, Junge. Ab jetzt bist du auf dich allein gestellt. Deine Mutter wird dir keine große Hilfe sein. Denke daran: Das alles kostet mich einen Arsch voll Geld. Keine faulen Tricks mehr! Enttäusche mich nicht.“
Peer nickte und meinte es ernst. Er wusste nicht, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde.
In den Schulferien fragte er seine mürrische Mutter:
„Wann kommt Kai endlich wieder zu uns? Interessiert es ihn gar nicht, wie es bei mir in der Schule läuft.“
Peer biss in das Nutella-Brot, das Freja ihm immer noch auf den Teller legte, und wartete auf eine Antwort.
„Dein Vater interessiert sich weder für dich noch für mich. Er wohnt jetzt in Düsseldorf bei seiner Frau.“
Peer vergaß das Kauen. Mit großen Augen blickte er Freja an:
„Was denn für eine Frau?“
„Die, die er geheiratet hat.“
Peer konnte seiner Mutter nicht folgen. Er sah lediglich, dass etwas gründlich schief gelaufen sein musste zwischen seinen Eltern.
„Wann?“
„Lange, bevor du geboren wurdest.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Sei nicht so naiv, Peer! Kai war schon verheiratet, als wir uns trafen. Und du warst ein blöder Unfall, der mein Leben ruiniert hat. Gäbe es dich nicht, wäre ich jetzt vielleicht eine berühmte Sängerin und würde auf den großen Bühnen der Welt singen. Ich hatte wirklich Potenzial.“
Damit hatte sie Peer vollends abgehängt.
„Eine Sängerin? Ich habe dich noch nie singen gehört.“
Freja schnaubte verächtlich:
„Lieber Gott, das Singen ist mir vergangen, als du geboren wurdest. Was weißt du schon von mir oder vom Leben? Du bist halt auch nur ein dummes Kind wie ich es war, als ich schwanger wurde.“
Peer stand auf und ging um den Tisch herum bis er direkt vor ihr stand:
„Ich bin ganz bestimmt nicht so dumm wie du? Und ich habe auch nicht darum gebeten, von euch Stümpern in die Welt gesetzt zu werden!“
Gleich darauf kam Frejas Linke wieder auf ihn zugeflogen. Peer zuckte nicht einmal. Er empfing den Schlag aufrecht und mit festem Blick. Es verschaffte ihm ein weißes, hoheitliches Gefühl:
„Geht’s dir jetzt besser? – Mutter!“
Das Wort brach verächtlich zwischen seinen Lippen hervor. Peer konnte Kai gut verstehen: Mit dieser Frau war es nicht auszuhalten.
Er rächte sich an seinen Eltern, indem er das weiße, hoheitliche Gefühl in sich kultivierte. Wenn er es brauchte, provozierte er Freja solange, bis ihr die Hand ausrutschte und sie anschließend vor ihm zu Kreuze kroch. Mit fünfzehn wurde er dieses Spiels überdrüssig. Er stoppte Frejas Hand im Flug und drohte, beim nächsten Mal zurückzuschlagen. Danach waren die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen neu sortiert.
Über seinen Vater verlor Peer nie wieder ein Wort. Für ihn war Kai ganz einfach tot. An einem grauen Spätsommertag war Peer zur Spree gefahren und hatte das rote BMX-Rad feierlich zu Wasser gelassen. Zufrieden hatte er zugesehen, wie der Strom es mit sich fortriss, bis auch noch das Rücklicht in den braunen Wellen versank.
Dann verschloss Peer die großen Gefühle in einem dunklen Winkel seiner Seele. Dort gehrten sie unbeachtet vor sich hin, bis zu jenem 24. April 2012, an dem sie sich ihren Weg zurück ans Licht bahnten.
***
Noch immer sitzt Peer auf dem Bettrand und verfolgt die News aus dem Finanzsektor. Seine Gesichtshaut spannt. Die Maske zieht schon länger ein als empfohlen. Er geht ins Bad, um die Reste abzuspülen. Blind tastet er nach dem flauschigen Frotteetuch am Waschbecken, das seine Putzfrau alle zwei Tage wechseln muss, und tupft sich das Gesicht damit trocken. Als er das Frotteetuch sinken lässt, glotzt Peer eine schlechte Kopie seiner selbst aus dem Spiegel entgegen. Sein Gesicht ist mit roten Pickeln übersät. Er kann nicht glauben, was er da sieht und spürt auch schon ein Kribbeln in der Nase. Er muss niesen.
Aus dem Schlafzimmer hört er die Musik der Acht-Uhr-Nachrichten. Schnell schlingt sich Peer das Handtuch um die Hüften, stürzt aus der Wohnung und klingelt auf der anderen Flurseite. Drinnen hört er Stimmen und Schritte, doch es dauert eine zähe Minute, bis die Tür endlich aufgeht. Die vollschlanke Brünette im Türrahmen weicht einen Schritt zurück, als Peer sie zweimal anniest:
„Ja danke, dir auch einen guten Morgen, Peer.“
Sie kneift die Augen zusammen:
„Wie siehst du denn aus? Hast du dir die Windpocken eingefangen? Dann kannst du gleich in die Küche durchmarschieren und die Jungs ein bisschen anstecken.“
Die Frau macht auf ihren High Heels kehrt und lässt die Tür offen. Peer folgt ihr barfuß in den Flur:
„Die Windpocken hatte ich mit sieben. Ekliges Zeug. Das hier ist das Resultat einer Gesichtsmaske.“
„Also, meine Gesichtsmasken wirken irgendwie anders“, hört Peer seine Nachbarin aus dem Badezimmer.
„Bitte, Verena! Du musst mir unbedingt helfen! Ich habe um halb zehn einen wichtigen Termin und kann da auf keinen Fall so aufkreuzen.“
Verena Bodenkamp streckt ihren Kopf zum Badezimmer heraus und zieht eine frisch gezupfte Augenbraue hoch:
„Und ich soll jetzt zaubern, oder was? Schau mal auf die Uhr. Es ist schon nach acht.“
„Ich weiß! Du kennst dich doch mit sowas aus: Was kann ich tun?“
Verena ist Apothekerin. Sie winkt Peer zu sich ins Badezimmer, wo das Licht besser ist. Wieder erschrickt er vor seinem eigenen Spiegelbild. In seinem Hals kratzt es unerträglich. Er muss husten. Seine Augen sind rot wie die eines Kaninchens. Sie brennen. Verena lacht:
„Du willst einen Tipp? Geh zum Arzt, Peer.“
„Das geht nicht. Dafür habe ich leider keine Zeit.“
Ein herzzerreißender Seufzer entfährt Verenas geschminktem Mund:
„Ooooh, ich vergaß: das ewige Leben auf der Überholspur.“
„Nein, darum geht es heute nicht, sondern darum, mir den Arsch nicht ein Jahr lang umsonst aufgerissen zu haben.“
„So schlimm? Na gut, komm her und lass mich mal sehen.“
Sie tritt dichter an ihn heran:
„Jetzt zier dich nicht so, ich greife dir schon nicht an die Brust.“
Peer streckt Verena das Gesicht entgegen, damit sie seinem nackten Oberkörper nicht zu nahe kommt. Er kann das Puder in ihrem Gesicht riechen und den Niesreiz nur schwer unterdrücken. Verena legt die Stirn in Falten:
„Erinnert mich an meine Sonnenallergie.“
„Hast du was ge-gen-sonn-en-aller-gie?“
Sein Satz erstickt in der nächsten Niessalve.
Verena verschwindet in ihrem Schlafzimmer. Peer folgt ihr nur bis in die Diele. In der Küche hört er Stühle rücken. Kurz darauf erscheint auf halber Höhe des Türrahmens ein rotblonder Haarschopf. Eine Sekunde später stürzt dessen Zweitausgabe in den Flur.
„Auch das noch – die Invitronen …“, denkt Peer nervös.
Obwohl sie zweieiig sind, kann Peer die Zwillinge nicht auseinander halten. Lars-Oliver und Carl-Henry beäugen ihn neugierig, während ihre Kaumuskeln im Gleichtakt arbeiten. Offenbar verirrten sich nur selten Männer mit Lendenschurz in diese Wohnung. Endlich kehrt Verena mit einer Tabletten-Schachtel zurück:
„Hey, ihr zwei! Setzt euch sofort hin und esst auf.“
Die Zwillinge verziehen sich wieder in die Küche, wo sie aufgeregt tuscheln. Peer nimmt sich vor, den beiden – sobald sie groß genug sind, um es zu verstehen – einen ordentlichen Denkzettel zu verpassen.
„Hier, das nehme ich bei der Sonnenallergie. Ein Antihistamin. Nimm eine davon. Sollte es helfen, bist du wohl gegen einen Wirkstoff in der Maske allergisch.“
Sie drückt Peer die Schachtel an den nackten Bauch:
„Los, raus jetzt. Ich bin spät dran.“
Peers Zunge fühlt sich taub an, als er leicht verschwommen antwortet:
„Tut mir leid, wenn ich dich aufhalte. Du hast auf jeden Fall was gut.“
„Ach ja? Was denn? Eine Pille?“
„Jede Pille, die du haben willst. Aber du sitzt ja selbst an der Quelle.“
„Naja, vielleicht kannst du dich mal als Babysitter revanchieren.“
Sie muss über seine ablehnende Haltung lachen, als sie Peer zur Tür hinaus komplimentiert.
„Keine Angst, das tue ich meinen Kindern nicht an.“
Peer hastet in die Küche seiner Wohnung zurück und drückt eine Tablette aus dem Silberstreifen. Er kann sie kaum schlucken, so dick ist sein Hals. Dann zerrt er ein weißes Hemd vom Kleiderbügel und steigt in den schwarzen BOSS-Anzug. Beides hat seine Putzfrau gestern aus der Reinigung abgeholt. Mit geübtem Blick entscheidet er sich für eine hellblaue Krawatte mit Jaqcuard-Muster. Es durfte nicht zu modisch wirken für einen Haudegen wie Ralf Ludger. Den oberen Hemdknopf lässt er offen. Es würde reichen, ihn im Büro zu schließen und dann den Krawatten-Knoten festzuziehen.
Gegen 08:37 Uhr wirft Peer sich den Mantel über. Das Gribbeln hat nachgelassen, genau wie das Brennen in den Augen. Ein letzter Blick in den Spiegel lässt seinen Mut wieder sinken:
„Verdammt. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass die Zeit für mich spielt. Wenn ich so ins Büro komme, laufen sie alle schreiend weg.“
***
Für die RAUL Quarz AG einen Käufer zu finden, hat Peer einige graue Haare gekostet. Das durfte jetzt nicht an einer Gesichtsmaske scheitern. Bei einem Verkäufer wie Ludger musste vor allem die Chemie stimmen. Bis zum Schluss hatte Peer darum gerungen, sein Vertrauen zu gewinnen und einen passenden Käufer zu finden. Es gab nicht viele Verhandlungspartner von Ludgers Schlag: raue Schale, weicher Kern. In der Regel hatte er es mit knallharten Managern zu tun, die vornehmlich die Interessen ihrer Aktionäre im Blick hatten. Meistens hockten sie selbst auf großen Aktienpaketen. Solche Käufer lehnte Ludger ab. Er hatte den größten Teil seines Gewinns lieber thesauriert, statt die Gier irgendwelcher Investoren damit zu füttern. Er hatte sich auch bei sozialen Themen engagiert und modernisiert, wenn er damit etwas für die Umwelt tun konnte. Nie kamen seine Mitarbeiter zu kurz. Sie waren schließlich das wichtigstes Kapital einer Firma. Alles, was er hatte, verdankte Ludger den Menschen, die für ihn arbeiteten. Die Aktien der RAUL Quarz AG waren echte Liebhaber-Stücke: wenig Schwankung bei soliden Dividenden.
Am Ende hatte Peer doch noch einen passablen Käufer aufgetrieben. Dieser war smart genug, sich nicht gleich als Rationalisierer zu outen. Diese Karte würde er erst nach der Übernahme spielen. Um halb zehn sollte die Unterschrift erfolgen. Der Vertrag lag seit gestern im Tresor, der Mont-Blanc-Füller, den sie für solche Anlässe angeschafft hatten, war mit frischer Tinte geladen. Einen Solitaire Legrand ließ niemand links liegen. Nicht einmal Ludger. Auch das Champagner-Gedeck stand schon kalt. Ob es nach der Unterschrift zum Einsatz kommen würde, war jedoch fraglich. Esther hatte bereits angekündigt, dass Ludger noch private Termine in Frankfurt wahrnehmen wolle. Peer sollte es recht sein. Ihm kam das Zeug ohnehin zu den Ohren heraus.
***
Auf dem Weg zur U-Bahn versucht Peer den Pfützen auszuweichen. Wegen des Dauerregens der letzten Tage sind die schmutzig-nassen Straßen und Bürgersteige nicht das beste Pflaster für seine teuren Lederschuhe. Peer überholt fast alle Fußgänger, die wie eine Herde müder Schafe auf ihre Arbeitsplätze zusteuern. Gerade rechtzeitig erreicht er den Zug und zwängt sich in den überfüllten Wagon.
Die Menschen um ihn herum versuchen, dichter zusammenzurücken, damit sie Abstand von ihm halten können. Sie blicken ihn nur kurz an und dann demonstrativ in eine andere Richtung. Drei Schulmädchen tuscheln hinter vorgehaltener Hand – ganz offensichtlich über ihn – und gackern ungeniert. Böse Erinnerungen werden in ihm wach. Der Kloß in seinem Hals schwillt wieder an. Zum Glück muss er nur wenige Stationen fahren.
Kurz vor seiner Haltestelle bleibt die U-Bahn stecken. Es dauert sechs Minuten, bis sie weiterfährt. Peers Stresspegel steigt bedrohlich. Er beginnt zu husten und kann nicht mehr aufhören. Eine Frau sieht ihn böse an und sagt zu ihrem Nebenmann:
„Unmöglich ist das! Warum können die Leute nicht einfach zuhause bleiben, wenn sie krank sind?“
Peer beachtet sie nicht weiter. Das nächste Niesen entlässt er in ihre Richtung. Entrüstet dreht sie sich von ihm weg. Ihr Nebenmann hält Peer ein Päckchen Papiertaschentücher hin. Er greift zu und bedankt sich mit einem kurzen Nicken.
„Wie lange wollen die mich noch auf die Folter spannen? Jeden Morgen das gleiche Theater mit der U-Bahn. Diesen Laden müsste man auch mal gründlich aufräumen.“
Sein Gesicht fühlt sich wie ein Luftballon kurz vor dem Zerplatzen an.
09:08 Uhr. An der Haltestelle Alte Oper springt Peer als Erster aus dem Zug. Keiner macht Anstalten, ihn aufzuhalten. Das Smartphone vibriert in seiner Manteltasche. Er zieht es heraus und betrachtet die lange Liste neuer Nachrichten im Display. Ein verpasster Anruf von Esther Hartung-Breuer.
„Hoffentlich nichts Schlimmes …“, denkt er.
Hektisch scrollt Peer die Liste ab. Vor fünf Minuten hat er den Major-Status in seinem Lieblingscafé an einen anderen Foresquare-Nutzer verloren. Das kann er unmöglich auf sich beruhen lassen. Das Café liegt quasi auf dem Weg ins Büro.
„Wenn ich mich beeile, kann ich dort noch schnell bei Foresquare einchecken. Wenn der Deal gelaufen ist, gehe ich nochmal hin, um in Ruhe meinen verdienten Cappuccino zu trinken. Das sollte genügen, um den Major-Status zurückzuholen.“
Da die Menschen sich auf der Rolltreppe drängen, entscheidet sich Peer für die volle Treppe. Er nimmt zwei Stufen auf einmal und versucht, sich eine Schneise zu bahnen, während er eine Antwort an seinen Chef tippt. Der wollte vor zwei Minuten wissen, wo Peer bleibt:
✉ bin in 10 minuten da.
Bevor Peer auf Senden drücken kann, leuchtet die Telefonnummer seiner Mutter im Display auf. Das Klingeln kommt jedoch von einem anderen Handy. Peer blickt auf und stößt mit jemandem zusammen. Einen Augenblick lang schwanken beide. Das BlackBerry rutscht Peer aus der Hand. Seine Schnappreflexe sind gut – wie es sich für eine #M&Auräne gehört. So bekommt er das Gerät noch zu fassen, bevor es auf den Betonstufen aufschlägt. Aus dem Augenwinkel sieht er etwas Rotes mit kurzem Aufschrei im U-Bahn-Schacht verschwinden. Menschen springen beiseite. Ein Stapel Papierbögen wirbelt auf und regnet in einzelnen Seiten wieder herab.
Das rote Etwas kommt stöhnend am Fuße der Treppe zum Liegen – zum Glück ohne weitere Menschen mitgerissen zu haben. Die anderen Passanten sind bestürzt zur Seite gesprungen und setzen ihren Weg nun zwischen den dicht beschriebenen Blättern fort. Bald sind die Zeilen von den schmutzigen Profilen vieler Schuhsohlen überstempelt.
Peer flucht, steckt sein Handy zurück in die Manteltasche und eilt die Stufen hinunter. Unterwegs sammelt er einige Seiten auf. Doch es ist aussichtslos, noch etwas zu retten. Auf der untersten Treppenstufe entdeckt Peer ein iPhone mit zertrümmertem Display. Auch das nimmt er an sich.
Einige Meter weiter kümmern sich zwei Helfer um eine junge Frau. Sie haben sie aus dem Verkehr gezogen und mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt. Peers Herz hämmert wie ein Zweitakt-Motor als er das Grüppchen erreicht. Die Verletzte starrt apathisch vor sich hin. Blonde Strähnen fallen über ihr Gesicht. Peer beugt sich zu ihr hinab und legt ihr die Blätter mitsamt iPhone in den Schoß.
„Ist sie verletzt?“, fragt er den älteren Herrn, der zu ihrer Linken kniet. Die Worte kriechen mühsam aus seinem Hals.
„Sieht ganz danach aus – oder?“, antwortet der Mann verständnislos, als die junge Frau ihren anverdauten Mageninhalt erbricht. Der Brei verfängt sich in den blonden Strähnen vor ihrem Gesicht, rinnt über ihre rote Daunenjacke und tropft auf die Papierbögen in ihrem Schoß. Schnell zieht die zweite Helferin die Hand zurück, mit der sie den Kopf der Verletzten stabilisiert hatte. Die junge Frau stöhnt gequält auf, als ihr Kinn auf die Brust sinkt. Der ältere Mann brüllt in die Menge:
„Ist ein Arzt in der Nähe?“
Doch niemand reagiert. Also wendet er sich an Peer:
„Können Sie einen Krankenwagen rufen?“
Peer nickt abwesend und blickt auf sein Handy: 09:13 Uhr.
„Verdammt …“, entfährt es ihm ungewollt.
„Was ist?“, fragt die Frau, die nun wieder den Kopf hält.
Eine innere Instanz gibt Peer das Signal zur Notlüge:
„Ich habe keinen Empfang. Ich muss nach oben.“
„Ja gut, aber machen Sie schnell!“
Peer rennt die Treppe hinauf und ist froh, als ihm der kühle Regen ins Gesicht fällt. Er wählt die 112. Eine Frauenstimme meldet sich:
☎ „Notruf-Zentrale, was kann ich für Sie tun?“
Peers Stimme ist nur noch ein Krächzen. Zwischen Husten und Niesen beantwortet er knapp, was die Frau von ihm wissen will: was passiert ist, wo es passiert ist, wie viele Personen verletzt sind und um welche Art von Verletzung es sich handelt.
☎ „Ist die Person bei Bewusstsein?“
☎ „Denke schon. Sie hat sich gerade übergeben.“
☎ „Das heißt nicht, dass sie bei Bewusstsein ist. Haben Sie die stabile Seitenlage angewendet?“
Peer hustet und sieht ungläubig auf sein Handy: 09:19 Uhr. Die Frau am anderen Ende fragt unbeirrt weiter:
☎ „Wie heißen Sie?“
Das Blut rauscht durch Peers Kopf. Es klingt wie eine Autobahn in seinen Ohren. Dumpf dringt die Stimme in sein Bewusstsein vor:
☎ „Hallo? Wie ist Ihr Name?“
Wieder erteilt etwas Mächtiges seinem Körper Befehle. Der Daumen drückt auf den roten Knopf.
Peer steckt das Handy in die Tasche und greift sich an den viel zu engen Hals. Sein Mantel ist klatschnass geregnet. Er zittert, spürt es aber kaum. Die Sekunden schweben in Zeitlupe dahin, als ob er sich in einer Seifenblase befände. Dann laufen seine Füße los. Sie überqueren den Opernplatz und laufen die Bockenheimer Landstraße entlang. Alles passiert im Autopiloten. Als Peer in den Kettenhofweg einbiegt, hört er ein Martinshorn heraneilen. Ein Polizeiauto schießt an der Straßenmündung vorbei. Peer dreht sich kurz nach ihm um und geht dann weiter.
Der Pförtner grüßt ihn nicht so nett wie üblich. Peer registriert es kaum. Wie in Trance steigt er in den Fahrstuhl. Um 09:23 Uhr erreicht er die zweite Etage, wo er die Glastür zu den Büroräumen mit einer Schlüsselkarte öffnet. Birgit Hofmeister vom Empfang sieht kurz auf und kann ihren Blick nicht mehr von ihm lösen.
„Hallo Birgit“, stammelt Peer abwesend und läuft weiter.
Auf dem Flur zu seinem Büro kommt ihm Jonas Witthoff entgegen. Beide sind Anwärter auf den Associate-Partner-Titel. Sie können sich in gegenseitigem Einvernehmen nicht ausstehen. Peer hält seinen Kollegen trotzdem am Ärmel fest:
„Ist Ludger schon da?“
Seinen Husten scheint er wieder unter Kontrolle zu haben. Angewidert blickt Jonas auf Peers Finger an seinem Jackett:
„Natürlich nicht. Der hat doch abgesagt.“
Peer starrt ihn entgeistert an:
„Was?“
Jonas kann nicht verbergen, dass ihm der Ausdruck auf Peers Gesicht gefällt. Er befreit sich aus dessen Klammergriff und streicht seinen Ärmelstoff glatt:
„Scheint sich ja ganz gut zu fügen, so wie du aussiehst. Hey Mann, tut mir echt leid für dich, aber ich muss weiter. Meeting.“
Peer öffnet die Tür zu seinem Büro. Wie betrunken torkelt er zum Schreibtisch und lässt sich in den Sessel fallen. Den Mantel behält er an. In seinem Gehirn überschlagen sich die Ereignisse des Morgens. Er hat vollständig ausgeblendet, dass sein Gesicht wie aufgepumpt ist und seine Augen brennen. Ihm ist kalt und auf eine seltsame Art übel. Das Herz pocht von unten gegen den Kloß in seinem Hals. Peer nimmt die Krawatte ab, die würde er heute nicht mehr brauchen, und kramt sein Blackberry aus der Manteltasche hervor. Ludger nimmt sofort ab. Die Hintergrund-Geräusche verraten, dass er in einem fahrenden Auto sitzt. Dann platzt Peers innerer Kragen. Er sieht nur noch Blitze aus gleißend-weißem Licht:
☎ „Peer Anderson hier. WHAT THE FUCK …?“
Peer hört das Summen des Motors und Ralf Ludgers schweren Atem, bevor der sich wieder fängt:
☎ „Wie bitte? Zügeln Sie Ihren Tonfall, junger Mann!“
☎ „Der junge Mann wird Ihnen jetzt mal was sagen: Ein Jahr lang reiße ich mir den Arsch für Sie und Ihr Rumgezicke auf. Sie können doch jetzt nicht einfach den Termin canceln, Herr Ludger! Hier warten alle auf Sie. Wo stecken Sie überhaupt?“
☎ „Von #einfach kann wohl keine Rede sein. Hat meine Assistentin nicht gesagt, dass ich wegen einer dringenden Familiensache verhindert bin?“
☎ „Sie verarschen mich doch! Eine Familiensache? Ist Ihr Hund etwa gestorben? Das ist sowas von unprofessionell!“
Am anderen Ende wird es gefährlich still. Dann meldet sich ein unüberhörbar zorniger Ludger zurück:
☎ „Haben Sie keine Familie, Herr Anderson? Nein, warten Sie, lassen Sie mich raten: Ihre Eltern haben Sie an einer Raststätte ausgesetzt, als Sie das erste Mal so über sie hergefallen sind wie jetzt über mich. Das könnte ich sogar gut verstehen.“
☎ „Was sind Sie bloß für ein Arschloch!“
☎ „Wissen Sie was, Herr Anderson, ich habe jetzt keine Zeit für Ihre Fäkalsprache. Sicher musste es so kommen. Ich war nie wirklich überzeugt von der ganzen Sache. Trotzdem schade, dass ich mich dermaßen in Ihnen getäuscht habe. Ich hoffe inständig, dass wir uns nicht wiedersehen. Ade!“
Peer wirft das Handy auf den Schreibtisch, wo es kurz vor den Pokalen für erfolgreiche M&A-Projekte zum Liegen kommt. Als er aufsieht, entdeckt Peer seinen Boss Clemens Jahnke in der Tür. Dessen Gesicht verrät, dass er schon eine Weile dort gestanden und zugehört hat. Peer ist noch immer fassungslos:
„Sagt einfach ab. Das gibt es doch nicht.“
Clemens’ Miene bleibt vollkommen ausdruckslos, als er erklärt:
„Es geht um eines von Ludgers Kindern. Scheinbar was Ernstes.“
Peer lacht leise in sich hinein:
„Na, immerhin besser als der Hund.“
Sein Chef tut so, als hätte er die Bemerkung nicht gehört:
„Ludger will die Unterschrift nächste Woche nachholen. Mit der Gegenseite und dem Notar haben wir alles geklärt. Ohne dich. Wo warst du eigentlich?“
„Auf dem Weg hierher.“
„Dann warst du aber spät dran. Und was ist mit deinem Gesicht los?“
Peer schweigt. Clemens atmet tief durch. So fahl hat Peer ihn noch nie gesehen. Dann sagt er:
„Auch egal. Wir werden sehen, was wir von diesem Deal noch retten können. Und wir beide unterhalten uns jetzt in meinem Büro, Peer.“
Kurz darauf steht Peer wieder im Regen vor dem Bürogebäude. Man hat ihn bis auf weiteres freigestellt. Peer kennt diese Formulierung. In den nächsten Monaten würden sie sich mit Hilfe von Anwälten auf eine hübsche Abfindungssumme einigen und darauf, dass Peers Lebenslauf lupenrein bleibt.
Clemens hatte ihm noch geraten, einen guten Arzt aufzusuchen:
„Ich kann für dich nur hoffen, dass es einen medizinischen Grund für dein Verhalten gibt. Und dass dieser Grund heilbar ist.“
Peer fehlten die Worte, um etwas darauf zu erwidern. Er sah nur weiße Blitze. In sein Büro hatte er nicht zurückkehren dürfen:
„Wir senden dir deine persönlichen Sachen nach. Gib mir bitte deine Schlüsselkarte. Das Handy kannst du vorerst behalten. Ist eh alles Flat. Aber besorge dir schnell ein neues.“
Auf der Fahrt nach unten hatte Peer einen Zombie im Wandspiegel des Fahrstuhls entdeckt. Ein Wesen mit aufgepumptem Gesicht und roten Tennisbällen statt Augen. Peer kann sich nicht erklären, warum ihm dieses Ungeheuer beim Hinauffahren nicht schon aufgefallen ist?
Auf der Straße kramt Peer sein Blackberry wieder hervor und wählt zum zweiten Mal die 112. Die gleiche Frauenstimme meldet sich mit:
☎ „Notruf-Zentrale, was kann ich für Sie tun?“
„Was ist das nur für ein beschissener Tag? …“, schimpft Peer innerlich. Kurz ist er geneigt, das Gespräch sofort wieder abzubrechen. Aber er will etwas wissen und wahrscheinlich konnte ihm genau diese Person am ehesten helfen:
☎ „Hallo, ich habe vorhin schon einmal angerufen und einen Unfall in der U-Bahn …“
Weiter kommt er nicht. Die Frau am anderen Ende fällt ihm ins Wort:
☎ „Das kann doch nicht wahr sein! Sie haben vielleicht Nerven, Mann, hier noch einmal anzurufen.“
Nur mühsam würgt Peer seine Frage hervor:
☎ „Können Sie mir sagen, in welches Krankenhaus die Frau gebracht wurde?“
Am anderen Ende hört man ein missmutiges Schnauben:
☎ „Wissen Sie was? Es ist wirklich ein Riesenzufall, dass Sie gleich zwei Mal bei mir landen. Und falls Sie da etwas falsch verstanden haben: Wir sind eine Notruf-Zentrale, keine Telefonauskunft. Ich nehme an, Sie wollen mir Ihren Namen immer noch nicht verraten. Sie wissen sicher, dass das Verlassen des Unfallorts kein Kavaliersdelikt, sondern eine ausgewachsene Straftat ist – oder?“
Peer nimmt das Handy vom Ohr und starrt es an – hört, wie die keifende Frauenstimme leise zu ihm herauf weht. Oben im Display taucht eine SMS von Esther Hartung-Breuer auf:
✉ es tut mir alles so leid, peer.
Und gleich danach eine weitere von Verena Bodenkamp:
✉ hey, geht es dir inzwischen etwas besser?
Peer blickt an der Fassade des Bürogebäudes empor, das ihn gerade wie einen abgenagten Kirschkern ausgespuckt hat. Der Regen prasselt gegen die große Glasfront. An seinem alten Bürofenster stehen Birgit Hofmeister und Jonas Witthoff. Sie weichen sofort zurück. Peer rinnt das Regenwasser in den Kragen. Sein Gehirn ist blockiert. Seit er mit Jonas gesprochen hat, kocht eine kalte weiße Suppe in ihm über. Wie ein giftiges Schlangentier kriecht sie von irgendwo ganz unten bis ganz nach oben ans Licht. Dann schnappt sie noch einmal zu:
„Ach, leck mich doch am Arsch, du blöde Fotze! …“
Peer lässt das Handy mit der keifenden Frauenstimme in den nächsten Gulli fallen. Dann trottet er Richtung Opernplatz davon.
Epilog
Peers Hausarzt wird ihm innerhalb der nächsten Stunde ein Kortison spritzen. Erst Jahre später wird Peer erkennen, dass sein heftiges Gesichtsödem nicht auf die Maske, sondern auf die Schoko-Sojamilch zurückzuführen war, die seine Putzfrau versehentlich gekauft hatte. Hierzu braucht es einen zweiten Schierlingsbecher, den er von einer jungen Hackerin serviert bekommt.
Der anaphylaktische Schock und dessen Folgen werden Peer dazu zwingen, sein Leben von Grund auf zu verändern. Dafür nimmt er sich viel Zeit. Die hat er jetzt. Seine Mutter wird sich darüber sehr freuen, denn die Zeit bringt ihr den verlorenen Sohn nach Berlin zurück.
Auch von seinem Vater wird Peer wieder hören. Nicht mehr von ihm persönlich, sondern von seinen sterblichen Überresten, die den Vertrag, den Kai zu Lebzeiten mit Freja geschlossen hat, nicht erfüllen können.
Lena, die Telefonisten aus der Notruf-Zentrale, wird sich noch einmal an Peer erinnern müssen, was sie nicht gerne tut. Aber was tut man nicht alles, um zu helfen. Das ist eine andere Geschichte.