Lena-31-Rettungsdienst-Helferin
Offenbach am Main, 24. April 2012
Empört reißt sich Lena das Headset vom Kopf:
„Hat dieser Vollpfosten mich gerade Fotze genannt?“, platzt es aus ihr heraus. Darauf muss sie erst mal eine Zigarette rauchen. Lena gibt das ihren Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen. Sie verlässt ihren Platz und sucht die Toilette auf.
Das Gespräch ist ihr in den Bauch gefahren. Solche Arschlöcher hatten sie ja öfter, aber gleich zwei Mal den Gleichen am selben Tag? Das war definitiv eine Premiere. Obwohl sie schon lange in diesem Beruf arbeitet, lösen Unfall-Flüchtige immer wieder Terror-Gefühle in ihr aus. Sie ist sich absolut sicher: Das war einer! Am liebsten würde sie jetzt etwas Lebloses verhauen: ein Sofakissen oder wenigstens die Fußmatte ihres gelben Fiat Punto. Die müsste dringend mal wieder gereinigt werden.
„Diese Schweine! …“, denkt Lena Ritzold. „Rufen mit unterdrückter Handynummer an, geben anonym den Notfall durch und legen wieder auf. Ist doch logisch, dass so jemand Dreck am Stecken hat. Jeder normale Mensch nennt am Telefon erst mal seinen Namen.“
Da die Funkortung bei Handys noch immer nicht durchgängig funktionierte, kommen die Anonymen leider oft ungeschoren davon.
Lena lässt kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Das erdet sie wieder. Die nassen Hände wischt sie an ihrer Hose ab. Das Handtuch neben dem Waschbecken war wie immer schnuddelig. Es hatte selbst kaum Zeit zu trocken. Außer Lena kümmerte sich keiner darum, das versiffte Ding mal zu waschen.
Sie geht nach draußen und zündet sich eine Zigarette an. Unter dem Vordach steht bereits ein anderer Kollege und raucht. Karsten Schneeberg mustert sie von der Seite. Lena mag diese Sorte Blick überhaupt nicht und ignoriert ihn beflissentlich. Das scheint Karsten nicht zu stören:
„Na, Lena, alles wieder im grünen Bereich?“
Lena verdreht die Augen und bläst ihm den Zigaretten-Qualm direkt ins Gesicht:
„Was sollte denn nicht im grünen Bereich sein, Karsten?“
Er wedelt die Rauchschwade beiseite:
„Das klang vorhin mal wieder nach viel Emotion.“
„Ach, wirklich? Besser, du lässt mich in Ruhe, bevor meine Emotionen mit mir durchgehen.“
Aber Karsten gibt noch nicht auf:
„Ich verstehe dich nicht. Du weißt doch genau, dass du die Leute nicht so hart angehen darfst.“
Lena zuckt mit den Schultern:
„Dann sollen sie nicht bei mir anrufen.“
Karsten lacht:
„Als ob sie sich das aussuchen könnten.“
„Vielleicht sucht das ja jemand genauso aus. Vielleicht will derjenige, dass ich diesen Vollpfosten mal die Zündung einstelle.“
„Wer sollte das denn wollen? Und vor allem so? Unsere Aufgabe ist es, Hilfe zu organisieren, und nicht, die Leute zu erziehen.“
„Dann hör doch einfach damit auf, Karsten“, kontert Lena. „Lass mich meinen Job machen und mach du deinen, o.k.?“
„So lange, bis sich wieder einer bei uns beschwert, was? Mal nebenbei bemerkt: Wenn du deinen Job so machst wie eben, müssen die anderen mehr Anrufe entgegennehmen, weil deine Leitung blockiert ist. Hast du daran schon mal gedacht?“
Mit diesen Worten tritt Karsten seinen Zigaretten-Stummel am Boden aus und kehrt ins Haus zurück. Lena bückt sich, um die Kippe zusammen mir ihrer eigenen in den Abfalleimer zu werfen, der direkt daneben steht.
„Der sollte erst mal lernen, seinen eigenen Dreck wegzuräumen, bevor er sich um den Dreck anderer Leute kümmert.“
Lena weiß, dass Karstens Vorwurf nicht ganz unberechtigt ist:
„Ich werde wohl nie lernen, die Dinge mit der nötigen Distanz zu sehen. Die anderen schaffen das irgendwie. Mir fällt das unendlich schwer.“
***
Ursprünglich hatte Lena Rettungssanitäterin werden wollen. Weil sie aber ihre Gefühle nicht raushalten konnte, war sie schließlich in der Notruf-Zentrale als Rettungsdienst-Helferin gestrandet. Dabei wäre die Prüfung ein Klacks für sie gewesen, hätte man sie mal gelassen. Lena kannte sich nämlich aus. Niemand brachte Verletzte so mühelos in die stabile Seitenlage wie sie – auch wenn es gar nicht nötig war. Das störte die Ärzte am Unfallort. Meistens hatten sie sie schnell beiseite geschoben. Um nicht tatenlos herumzustehen, fing Lena dann schon mal mit der Zeugenbefragung an. Das mochte die Polizei nicht so gern.
Nach dem betrunkenen BMW-Fahrer, der mitten in einer Baustelle den großen Unfall auf der A3 verursacht hatte, war es vorbei gewesen mit ihrem Sanitäter-Traum. Ein Toter und drei Schwerverletzte. Der BMW-Fahrer blutete nur am Kopf. Offenbar hatte sie ihm den Druckverband nicht sanft genug anlegt. Später ging ein Brief seines Anwalts bei ihnen ein. Ihr Chef konnte das irgendwie gerade biegen. Dennoch schlug er Lena vor, lieber in der Notruf-Zentrale zu arbeiten. Da seien ihre umfassenden Kenntnisse auch von großem Wert. Sie wusste, dass er es gut mit ihr meinte. Außerdem hatte Lena schon genug Menschen von der Straße gekratzt. Deshalb willigte sie ein.
Im Grunde gefiel ihr die Arbeit gut, auch wenn sie nicht anspruchsvoll war. Nur an solchen Tagen – wenn eines dieser anonymen Arschlöcher durch die Leitung kam – hasste sie ihren Job. Dann klopften die alten Terror-Gefühle wieder bei ihr an. Ausgerechnet heute hatte sie eine Doppelschicht einlegen müssen. Eine Kollegin war ausgefallen. Sonst hätte der Kerl gar kein zweites Mal bei ihr landen können.
Wenn jemand ausfiel, fragte ihr Chef zuerst bei denen nach, auf die zuhause niemand wartete. Vor wenigen Monaten hatte es noch Marten Degenhardt in Lenas Leben gegeben. Doch das war nun Geschichte. Fünf Jahre lang hatten sie eine On-Off-Beziehung geführt – meistens in Lenas winziger Bude, weil Marten noch bei seinen Eltern wohnte.
Weil Marten viel lernte, kümmerte sich Lena allein um den Haushalt – auch finanziell. Steuerberater wollte er werden, der Herr Degenhardt, und Lena dann ein sorgenfreieres Leben bieten. Dass sie nicht lachte:
„Wie hätte ein Leben mit Marten jemals sorgenfrei sein können? …“
Damit musste sich nun eine andere herumschlagen. Sie war ihn los.
Vor gut einem Jahr hatte Marten seine Ausbildung beendet, eine gute Stelle gefunden und bei der Arbeit Anke Precht kennengelernt – eine gestandene Steuerfachfrau, die wusste, dass ihre biologische Uhr unerbittlich tickte. Sie war bereits 39 und schien sich viel von Martens jüngeren Genen zu erhoffen.
Anke brauchte keinen Ernährer, sondern eine männliche Emanze an ihrer Seite, die bei Familie und Haushalt mitanpackte. Bei Anke konnten sich Männer nicht ausruhen. Sie ruhte sich schließlich auch nicht aus. Neben einem stressigen Job verfolgte Anke das ehrgeizige Ziel, die Vergänglichkeit ihres Hochglanz-Körpers so lange wie möglich aufzuhalten. Hierbei schreckte sie vor keiner sportlichen oder kosmetischen Neuentwicklung zurück. Mit beachtlichem Erfolg, wie man ihr zugestehen musste.
Für Marten war die Sache klar:
„Anke ist endlich mal eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Das kann man von dir ja nicht behaupten. … Du und deine permanente Sinnsuche! Dabei hast du leider den Bezug zur Realität verloren. Kein anderer Mann hätte das so lange mitgemacht wie ich. Aber auch ich bin nur ein Mensch und mit der Geduld am Ende. Ich muss mir einfach eingestehen, dass ich der Aufgabe, dich auf deinem komplizierten Weg zu begleiten, nicht gewachsen bin. Du brauchst einen Therapeuten und keinen Mann!“
Ganz unrecht hatte er nicht. Lena war tatsächlich etwas eigen. Sie glaubte nicht an Zufälle. Der Gedanke, dass die Welt voller Zeichen steckte, die Beachtung verdienten, gefiel ihr besser. In Lenas Augen gab es eine Vorsehung, die man austricksen konnte, wenn man diese Zeichen zu deuten wusste. So ließ sich das Schicksal in die richtigen Bahnen lenken, bevor es einen von hinten überrollte.
Zur Erweiterung ihres Bewusstseins hatte Lena viel recherchiert und auch schon einiges ausprobiert: Klangschalen-Meditation, Astrologie, Tarot, Feng Shui, EFT. Aktuell lebte Lena nach dem Mondkalender und lernte, das Verhalten von Tieren auf Abweichungen hin zu beobachten. Hierzu hatte sie etwas in einem Blog gelesen. Viele solcher Angebote gab es rund um die Uhr im Internet – ideal für die Schichtarbeit.
Gelegentlich konsultierte Lena eine Online-Schamanin. Unter deren Anleitung hatte sie vor kurzem die Wohnung von Martens schlechtem Karma gereinigt. Hierzu musste sie ein Kräuterbündel anzünden und im Rhythmus der Trommelklänge, die die Schamanin remote produzierte, durch die Luft schwenken.
Das Zimmer wollte Lena ohnehin neu streichen. Die Möbel standen seit Wochen zugedeckt in der Mitte des Raums. Doch Lena wartete auf den richtigen Hinweis in ihrem Mondkalender: weil die Wandfarbe großen Einfluss auf das Seelenleben der Bewohner hatte und nicht in jeder Mondphase gleich gut haftete.
Marten hatten diese Experimente regelmäßig in Rage gebracht. Lena ertrug seine Anfälle mit stoischer Ruhe. Martens Geist war einfach noch nicht so weit. Das erklärte auch seine Impulsivität. Vor allem beim Essen verstand er keinen Spaß. Er sah nicht ein, warum er seinen Organismus mit Pulvern, Kräutern oder Ölen belasten sollte, die Lena unter die Mahlzeiten mischte.
„Hast du da wieder irgendein Gift reingerührt?“
„Also wirklich, Marten! Wie bist du denn drauf?“
„Ich frage lieber zweimal nach, seit ich mit einer Hexe zusammenlebe.“
„Das ist keine Hexerei, sondern Ayurveda.“
„So, so, Ayurveda … Und wo hast du das schon wieder gelernt?“
„Bei YouTube.“
„Bei YouTube … Darf ich mal kosten? Vielleicht geh ich lieber einen Döner essen.“
Marten griff nach einer Gabel, doch Lena hielt den Topfdeckel zu:
„Wag es bloß nicht!“
„Himmel! Was hast du nun schon wieder für ein Problem?“
„Wenn du da jetzt mit der Gabel reinstichst, veränderst du die molekulare Struktur der Lebensmittel. Dann hätte ich mir das Ganze auch sparen können.“
Marten starrte sie fassungslos an:
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Lena!“
„Doch.“
„O.k. Ich gehe einen Döner essen. … Ach, übrigens: Für mich kannst du dir das Ganze in Zukunft sowieso sparen.“
Danach war Marten nur noch einmal aufgetaucht, um seine Sachen abzuholen. Lena hatte ihn bei seinen Eltern vermutet und schadenfroh in sich hinein gegrinst. Sie war sich sicher gewesen, dass er in einigen Wochen wieder an ihre Tür klopfen würde. Doch einige Monate später sah sie Marten mit der kugeligen Anke in der Stadt-Bibliothek. Er trug einen Stapel Elternratgeber hinter ihr her. Inzwischen war das Kind auf der Welt, und Marten hatte es sich nicht nehmen lassen, Lena eine rosafarbene Geburtskarte zu schicken. Das Mädchen hieß Pauline, war 53 Zentimeter lang und 3,9 Kilo schwer. Lena fragte sich, wie Marten mit mehr als einer Frau im Leben klar kommen wollte?
Seit Martens Abgang hat Lena vierzehn Pfund zugenommen. Sie hat sich eine neue Haarfarbe zugelegt und ihr Bettgestell frisch lackiert. Beides knallrot. Sonst ist alles beim Alten geblieben. Ihre Einrichtung gleicht einem Sammelsurium an Dingen, die andere mal für Sperrmüll gehalten haben. Doch Lena erkennt sie: die Seele des Sessels, in dem die Menschen sich gern ausgeruht haben, die Seele des Kästchens, dem die Leute schon seit Generationen ihre Geheimnisse anvertrauen, oder des fleckigen Spiegels, der so viele Gesichter gesehen hat. Lena liest diese alten Seelen von der Straße auf und haucht ihnen mit etwas Farbe und Geschick neues Leben ein. Nur für Marten hatte sie die richtige Politur nicht gefunden. Bei Marten war einfach der Wurm drin. Den hatte sie zurück auf die Straße stellen müssen.
***
Am Ende der Schicht spürt Lena Claras Hand auf ihrer Schulter:
„Na, meine Liebe – alles wieder gut? Lust auf Bier und Pizza?“
Clara Greiner ist Lenas liebste Kollegin und nach Lenas Ansicht eine Fleisch gewordene Männerfantasie: schlank mit großen Brüsten, langen rehbraunen Haaren und warmen Kuhaugen. Lena mag Kühe und alle mögen Clara – nicht nur, weil sie so hübsch ist, sondern auch wegen ihres freundlichen Wesens. Karsten und Hannes erröten oft, wenn Clara sie anspricht. Das mag Lena ganz besonders an ihr.
„Was habt ihr heute für ein Problem mit mir?“, fragt Lena ärgerlich.
Clara winkt ab:
„Gar keins. Ich will dich nur auf andere Gedanken bringen. Und Hunger habe ich auch.“
Da Lena und Clara nicht oft zur gleichen Zeit Schichtende haben und es in Lenas Wohnung nach Baustelle aussieht, gefällt ihr die Idee:
„Prima! Wohin gehen wir?“
„Zu Mario? Dort finde ich auf jeden Fall etwas Veganes.“
„Gute Idee. Los, hauen wir ab.“
Lena meldet sich vom System ab und zieht ihren Rucksack unter dem Tisch hervor. Gefolgt von Karstens bösen Blicken hakt sie sich bei Clara unter, um ihre Kollegin zur Tür zu lenken. Kurz vorm Verlassen des Raums grinst sie Karsten noch einmal hämisch an und schiebt sich mit ausgefahrenem Mittelfinger die Brille höher auf die Nase. Clara lacht:
„Los, raus jetzt, bevor ich noch erste Hilfe leisten muss.“
Im Flur ziehen sich die beiden Frauen ihre Jacken über.
„Ist nicht dein Tag heute, was?“, fragt Clara mitfühlend.
„Geht so. Wieder so ein anonymes Arschloch.“
„Ach je! Scheint so, als würden die vermehrt bei dir aufschlagen.“
Lena zuckt mit den Schultern:
„Schlechtes Karma. Und dann auch noch zwei Mal am selben Tag.“
Clara bleibt stehen und sieht sie ungläubig an:
„Wie bitte? Heute gleich zwei von der Sorte?“
„Nein, zwei Mal der Gleiche.“
„Du spinnst!“
Lena öffnet die Haustür, damit sie in den Hof hinaustreten können:
„Leider nein. Das erzähle ich dir bei Mario. Hast du einen Schirm? Es regnet schon wieder.“
„Natürlich nicht, Lena. Ich bin doch nicht aus Zucker.“
Lena lacht:
„Ich kenne hier einige Leute, die das anders sehen.“
„Ha, ha!“
Unter dem Vordach bleiben sie stehen, um noch eine Zigarette zu rauchen. Clara bläst den Rauch in die feuchte Luft, wo er wie eine Säule hängen bleibt:
„Ist dir der Typ da drüben auch schon aufgefallen?“
„Welcher Typ?“
Clara deutet unauffällig in Richtung eines Mannes auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Lena folgt ihrem Finger mit dem Kopf. Der Mann sitzt in voller Montur auf seinem Motorrad und lässt sich nass regnen. Als er merkt, dass die Frauen ihn beobachten, startet er den Motor und braust davon. Lena und Clara sehen ihm sprachlos nach.
„Was war das denn?“, fragt Lena.
„Unheimlich, oder? … Den Kerl habe ich in letzter Zeit schon öfter dort stehen sehen. Immer mit Helm auf dem Kopf.“
Lena schüttelt den Kopf:
„Beim nächsten Mal sollten wir das Kennzeichen notieren.“
„Gute Idee. … Wo steht dein gelbes Elend?“, will Clara wissen. Lena überlegt kurz, wo sie heute ihren alten Fiat Punto geparkt hat:
„Gerade läuft er mal wieder ganz gut. Nachdem ich gedroht habe, ihn nach Nord-Afrika abzuschieben, ist er die letzten Tage einwandfrei angesprungen. Mal sehen, wie lange er noch durchhält.“
Die beiden Frauen drücken ihre Zigaretten im Aschenbecher aus und stürzen sich in den Regen.
Gegen elf Uhr beschließt Lena, nachhause zu laufen. Es nieselt nur noch leicht. Sie hat einen warmen Bauch und ein bisschen über den Durst getrunken. Clara ist skeptisch:
„Bist du dir sicher? Du wohnst nicht mal eben um die Ecke, Lena. Du könntest wie ich den Bus nehmen.“
„Nein, ein bisschen Bewegung und frische Luft tun mir ganz gut nach diesem beschissenen Tag. Danke, dass du meine Stimmungskurve am Ende noch einmal nach oben gerissen hast.“
„Schon gut. Wie du meinst … Du bist ja eine erwachsene Frau.“
„Stimmt.“
Lena begleitet Clara zur Bushaltestelle, wo sie eine letzte Zigarette rauchen. Nachdem Clara in den Bus eingestiegen ist, zieht Lena alleine weiter durch die Nacht. Sie durchquert die leere Innenstadt und biegt in die Feldstraße ein. Plötzlich befindet sie sich in der Bachstraße. Langsam läuft sie die Häuserreihe entlang, bis sie das Haus mit den blauen Fensterläden gefunden hat, an dem sie in den letzten Wochen öfter vorbei gefahren ist.
Als im ersten Stock ein Licht angeht, zieht sich Lena hinter einen Baum zurück. Sie blickt zu dem Fenster auf der anderen Straßenseite hinauf. Das Zimmer hat eine rosafarbene Tapete. Stofftiere sitzen auf dem Fenstersims. Dann sieht sie Marten, der verschlafen durch das Zimmer wandert. Er schüttelt ein Fläschchen auf und hält es an seine Wange.
„Anke stillt sicher nicht …“, denkt sich Lena. „Wahrscheinlich ist es ihr wichtiger, dass die Brüste in Form bleiben.“
Marten beugt sich vor und verschwindet kurz aus Lenas Blickfeld. Dann taucht er wieder auf. Lächelnd redet er auf das weinende Baby ein, das er vorsichtig in seine Armbeuge bettet. Dann ist er aufs Neue verschwunden. Offenbar hat er sich hingesetzt, um das Kind zu füttern.
Lena setzt ihren Heimweg fort. Eine lähmende Schwere befällt ihre Glieder: Mit etwas gutem Willen hätte dieses Kind vielleicht auch ihres werden können. Doch beim Gedanken, mit Marten zusammenzuziehen, war ihr regelmäßig mulmig geworden. Marten verstand einfach nicht, worum es ihr ging.
Als sie die Wohnungstür öffnet, blinkt das rote Lämpchen des Anruf-Beantworters im dunklen Flur. Lena schaltet das Licht ein, hängt ihren nassen Parka an die Garderobe und nimmt ihre beschlagene Brille ab. Im fleckigen Wandspiegel sieht sie, dass ihre Wimperntusche verlaufen ist. Lena blinzelt ihr unscharfes Spiegelbild an:
„Es tut mir schrecklich leid dir sagen zu müssen, dass du nicht so hübsch bist wie Clara, meine Liebe. Dafür bist du ein echter Vamp und das ist ja auch was.“
Sie zieht die Oberlippe hoch, bis ihre Eckzähne freiliegen, und faucht. Dann beugt sie sich hinüber zum Anruf-Beantworter und drückt die Abspieltaste. Nach der Zeitansage folgt erst die leidende Stimme ihrer Mutter. Lena seufzt:
„Ich bin schon wieder viel zu nüchtern.“
Gudrun Ritzold ruft regelmäßig bei ihrer verlassenen Tochter an. Weil sie diese Anrufe nerven, nimmt Lena seit Wochen den Hörer nicht ab. An den Nachrichten auf dem Anruf-Beantworter kann Lena verfolgen, wie Gudruns Stimmung immer weiter nach unten rutscht. Heute liegt ihr Tonfall bei dis-Moll. Noch nicht tief genug für Lena, um ihre Mutter zurückzurufen. Die hing sowieso nur der falschen Sorge nach, Lena käme ohne Mann nicht zurecht. Dabei waren Lenas Eltern auf Marten nie gut zu sprechen gewesen.
***
Vor allem Lenas Vater hatte kein gutes Haar an ihm gelassen:
„Marten soll endlich mal in die Puschen kommen und dir nicht länger auf der Tasche liegen. Wie lange dauert das eigentlich noch mit seiner Ausbildung? Ist das normal? Ihr könntet längst eine größere Wohnung haben und über Familie nachdenken. Du wirst ja auch nicht jünger.“
Doch Lena gab auf die Meinung ihres Vaters nicht viel. Sie reizte sie nur, das Gegenteil davon zu tun.
Am Ende hatte Günther Ritzold wie immer alles #genau-so kommen sehen. Nur ein Mal hatte sein unfehlbarer Instinkt versagt. Und da wäre es wirklich wichtig gewesen. Die Familie wäre fast daran zerbrochen. Zwei zermürbende Jahre des beharrlichen Schweigens hatten damals ins Land gehen müssen, bevor Günther sich überwinden konnte, das erste Wort mit seiner Tochter zu wechseln. Doch bis dahin hatte Lena sich bereits in ihrem inneren Exil verschanzt. Sie machte nur noch, was sie wollte, und gern Dinge, die Günther so richtig in Wallung brachten.
Drohte er ihr mit Hausarrest, schloss Lena ihre Tür von innen ab und kam nicht mehr heraus. Wenn es sein musste, für den Rest des Tages. Für solche Fälle hatte sie Cola, Chips und Kekse hinter ihren Büchern gebunkert. Dann hing sie oft mit dem Ohr an der Zimmertür und hörte zu, wie ihre Mutter mit dem Vater schimpfte:
„So kann das unmöglich weitergehen mit euch beiden. Kannst du nicht ein bisschen nachsichtiger mit ihr sein? Nicht nur du hast viel verloren. Wir alle!“
Meistens weinte ihre Mutter nach solchen Gesprächen.
Gudrun Ritzold litt sehr unter den häuslichen Spannungen. Seit dem Unglück funktionierte sie nur noch, um die Familie am Laufen zu halten. Trotzdem bekam Lena noch einen fünfzehn Jahre jüngeren Bruder. Max tanzte ihren Eltern munter auf der Nase herum. Erst vor kurzem hatte er die Datenbank seiner Schule gehackt. Das gab mächtig Ärger. Jede Note hatten sie überprüfen müssen. Doch die hatte Max gar nicht angerührt. Er wusste, wo der Spaß aufhörte. Die sollten nur mal sehen, wozu er fähig wäre, wenn er wollte. Deshalb war das Ganze auch aufgeflogen: weil er auf dem Schulhof damit geprahlt hatte.
***
☎ „Wenn du dich bis morgen Abend nicht bei uns gemeldet hast, Lena, sehen wir uns gezwungen, die Polizei anzurufen und deine Wohnung öffnen zu lassen. Vielleicht ist dir etwas zugestoßen. … Mein Gott, Günther, das kommt mir ja jetzt erst. Vielleicht liegt sie in ihrer Wohnung und …“
Da ist es wieder, ihr schlechtes Gewissen. Lena geht in die Küche, um Tee zu kochen. Sie stellt den Kessel auf und holt einen Teebeutel aus dem Schrank. Ihr ist kalt. Um Mitternacht schaltet sich die Heizung automatisch ab. Auf dem Korbstuhl liegt die Fleecedecke noch so, wie Lena sie in der Nacht zuvor verlassen hat. Sie gießt den Tee auf und mummelt sich in ihre Decke ein. Dann fährt sie den Laptop hoch. Björn hat zwei Nachrichten hinterlassen.
12:03 Uhr:
>ich bin zuhause und verbringe den regentag auf der couch. wäre echt schön, jetzt ein bisschen mit dir zu chatten. ☺ >>
16:38 Uhr:
>bist du da? brauche deine aufmunternden worte bei diesem depri-wetter. überlege gerade, aus dem fenster zu springen. aber es ist so kalt und nass da draußen. >>
Lena schmunzelt und antwortet:
>hey björn, du alte nervbacke. bist du schon gesprungen oder hängst du immer noch auf der couch rum? >>
Sie muss nicht lange warten. Björn ist online und auch noch wach, was nicht selten vorkommt. Sie chatten oft die halbe Nacht durch.
>da bist du ja endlich. dachte schon, dir ist was passiert. >>
>oh mann, du hörst dich an wie meine mutter. ich hatte zwei schichten und war anschließend mit clara noch was essen. >>
>wer ist clara? >>
>meine kollegin. >>
>ist die genauso hübsch wie du? ☺ >>
>wie kommst du darauf, dass ich hübsch bin? >>
>ich weiß es einfach. ☺ sicher haben euch die kerle belagert. >>
>stimmt. der erste hat uns schon vor dem büro aufgelauert. >>
>wie meinst du das? >>
>da hängt seit ein paar tagen ein vermummter stalker auf seinem motorrad rum. wir wissen aber nicht, wen er stalkt. >>
>woher wisst ihr, dass er überhaupt stalkt? >>
>als er merkte, dass wir ihn beobachten, ist er abgehauen. wenn der morgen wieder da steht, rufe ich die polizei. >>
>übertreibst du nicht ein bisschen? lass ihn doch. vielleicht ist er ja ganz harmlos. wie war denn sonst dein tag? >>
***
Auf das Chatten hat Clara sie gebracht, was Lena frustriert:
„Wenn Clara schon Probleme hat, einen brauchbaren Kerl zu finden, tendieren meine Chancen wohl eher gegen Null.“
Leider war auch Clara bisher immer an die Falschen geraten: Die Kerle hatten nur ihr hübsches Äußeres gesehen und Claras innere Schönheit sträflich vernachlässigt. Lena ärgerte das:
„Eigentlich sollte es verdammt nochmal anders herum sein. Das ist der Vorteil beim Chatten: Man kann erst mal in Ruhe abchecken, mit wem man es zu tun hat, bevor man sein Herz in den Ring wirft.“
Lena faszinierte, wie viele Exoten sich im Chat tummelten: Leute, an denen sie auf der Straße vorbei gelaufen, mit denen sie in einer Kneipe nie ins Gespräch gekommen wäre – schon deshalb nicht, weil sie nicht die gleichen Orte besuchte. Zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit waren Menschen bereit, mit Unbekannten über ihre Gefühle zu reden. Im Chat zählten keine Äußerlichkeiten. Hier zählte nur der Mensch.
Seit vier Wochen chattete sie mit diesem Björn – einem 39-jährigen Feinmechaniker aus Bochum. Sie hatten sich sofort angefreundet. Auch Björn arbeitete im Schichtbetrieb. Nur deshalb konnten sie sich gemeinsam die Nächte um die Ohren schlagen.
***
>geht so. hatte schon besser tage. bei mir ist wieder so ein scheiß unfall-flüchtiger aufgeschlagen. gleich zwei mal. >>
>oh je! naja, wenigstens rufen sie überhaupt an. >>
>willst du das etwa rechtfertigen? lass es! >>
>im schock kann man schon mal einen aussetzer haben. >>
>mach dich jetzt bloß nicht unbeliebt! >>
>ich muss gestehen: als kind habe ich auch nicht alle meine missetaten zugegeben, weil meine eltern so streng waren. >>
>wie meine schwester. das kleine miststück. und ich durfte es dann oft ausbaden, weil ich die ältere war. >>
>seit wann hast du eine schwester? bisher hast du immer nur von deinem kleinen hacker-bruder erzählt. >>
>das liegt daran, dass ich keine schwester mehr habe. >>
>wow! … so nachtragend? >>
Lena hält die Luft an. Wie waren sie jetzt hierhin geraten? In ihr ist alles auf Abwehr geschaltet.
>nein. sicher nicht. >>
>aber? >>
>sie ist tot. >>
>oh shit!!! ich idiot. tut mir leid. >>
>konntest du ja nicht wissen. ist lange her. ein unfall. >>
>was ist denn passiert? >>
>weiß nicht, ob ich jetzt darüber reden will. >>
>klar willst du. sonst hättest du gar nicht davon angefangen. ich bin ein guter zuhörer, wie du weißt. >>
>ein elender küchentisch-psychologe bist du. >>
>meinetwegen. – also? >>
>es war ein autounfall. ist schon 19 jahre her. keiner redet mehr darüber. wir haben ja jetzt unseren max. >>
>armer max. da habt ihr ihm ganz schön viel aufgebürdet. >>
Lena stöhnt innerlich auf:
„Das brauche ich jetzt wirklich nicht! Den ganzen Mist wieder aufkochen. Nur wegen dieses Arschlochs heute Morgen.“
>ach was! wieso denn? es war ein ganz unspektakulärer unfall: luisa und ich auf dem fahrrad gegen einen bmw. der bmw hat gewonnen. daran kann max auch nichts ändern. wir blicken nur alle nach vorn. >>
>du warst dabei als es passiert ist? wie schrecklich. >>
>ich lebe ja noch, wie du siehst. >>
>wie ist das, seine schwester bei einem unfall zu verlieren, den man selbst überlebt? >>
„Interessante Frage …“, geht es Lena durch den Kopf.
>grausam. >>
>wieso grausam? >>
Lena weiß nicht, was sie antworten soll. Sie ist wütend auf sich selbst:
„Was geht Björn das überhaupt an? So gut kennen wir uns nun auch wieder nicht.“
>es ist zum beispiel grausam, wenn dein Vater denkt, dass es deine schuld ist, und deshalb nicht mehr mit dir spricht. >>
>wie kommt er denn auf so eine absurde idee? >>
>du willst jetzt wirklich die volle dröhnung, was? >>
>na klar! >>
>oh mann! warum habe ich nur damit angefangen? >>
>keine ahnung. sag du es mir. >>
>also gut. ich war 13 und wollte mich mit ein paar freunden auf der kerb im nachbarort treffen. mein vater hatte immer stress, dass ich mit den falschen leuten abhängen und mir meine zukunft versauen könnte. deshalb kam er auf die geniale idee, ich solle luisa mitnehmen und auf sie aufpassen. >>
>clever. >>
>ja, wenn es darum geht, anderen den spaß zu verderben, ist er echt groß. … egal. wir waren spät dran und mein vater tauchte wieder mal nicht auf, obwohl er versprochen hatte, uns mit dem auto hinzubringen. leider kann man auf seine versprechen nicht viel geben. auch an diesem tag hatte er sich irgendwo festgequatscht. nur deshalb habe ich luisa überredet, mit dem rad zu fahren und eine abkürzung durch den wald zu nehmen, die meine eltern uns verboten hatten. es ist keine reguläre straße, aber mit dem rad eigentlich kein problem. dummerweise nutzen ihn manchmal auch autofahrer. vor allem, wenn sie zu viel getrunken haben. >>
>und hier ist es dann passiert? >>
>richtig. ein grüner bmw. viel zu schnell. da gibt es viele schlaglöcher. irgendwie muss er luisa gestreift haben. >>
>shit! und dann? >>
Lenas Augenlider flattern. Ein schlechtes Omen. Wenn sie jetzt nicht aufpasste, fing sie an zu hyperventilieren.
>da ich vorne gefahren bin, kann ich es dir nicht so genau sagen. es war nur klar, dass hinter mir was schlimmes passiert sein musste. bis ich angehalten hatte, war der bmw schon an mir vorbei geschossen. >>
>der hat nicht angehalten? was für ein arsch. >>
Lena sackt auf dem Stuhl zusammen und schaut auf alles, was sie bis eben geschrieben hat:
„Wie kam ich auf den Gedanken, das alles läge längst hinter mir …?“
Gerade erstand es wieder auf: in 3D und Dolby Surround. Lena weiß, dass sie hier abbrechen sollte. Sie muss sich bewegen, sich das miese Gefühl aus den Knochen klopfen. Irgendwas, das ihr schnelles Herz beruhigt. Doch die Sekunden verstreichen und sie rührt sich nicht.
>lena? alles in ordnung mit dir? >>
„Gar nichts ist in Ordnung, Mann …“
Lena legt ihre tauben Fingerspitzen wieder auf die Tasten.
>ja. alles o.k. >>
>möchtest du lieber aufhören? >>
>nein. jetzt ziehen wir es durch. luisa lag im graben neben ihrem fahrrad. das bild vergesse ich nie: wie sich die pedale noch gedreht haben. ich bin zu ihr gerannt und habe sie auf den rücken gedreht. dann geriet ich in panik, weil sie sich nicht mehr rührte. dabei hatte luisa nur ein paar schrammen und schürfwunden im gesicht. sonst sah sie völlig normal aus. ich wusste nicht, was ich tun soll: wegfahren und hilfe holen oder bei luisa bleiben? ich bin dann geblieben und das war ein fehler. obwohl der fehler schon viel früher passierte, nämlich als ich luisa auf den rücken drehte. ganz böser fehler! >>
>kam niemand mehr vorbei, der dir hätte helfen können? >>
>ich sagte ja, dass es keine richtige straße ist. das nächste fahrzeug war der krankenwagen mit martinshorn. und gleich darauf kam die polizei mit blaulicht um die ecke. da war luisa aber schon tot. >>
>oh – mein – gott! >>
Lenas Hände sind eiskalt, aber schweißnass. Unter der Fleecedecke wird es ihr plötzlich viel zu eng. Sie streift die Decke von den Schultern ab und holt tief Luft. Ihr Atem ist zu flach – zu schnell. Sie weiß, dass in der Küchenschublade Plastikbeutel liegen, die sie sich im Notfall vor Mund und Nase halten kann.
„Konzentrier dich! Los jetzt! Hör zu, wie die Luft an deinem Kehlkopf vorbeifließt: ganz ruhig – ein und aus – ein und aus …“
Mit einem Schleier vor den Augen tippt sie weiter.
>sie ist an ihrer zunge erstickt. ich musste zusehen, wie ihr gesicht langsam blau anlief. luisa ist mir zwischen den fingern weggestorben. das gefühl werde ich nie vergessen. ich wollte es zuerst gar nicht wahrhaben. ich habe wie doof auf ihren backen rumgehauen, wie sie das im film immer machen. voll bescheuert! ich habe einfach nicht kapiert, wohin ihr leben gegangen ist und warum ich es – verdammt noch mal – von dort nicht wieder zurückholen konnte. verstehst du das? >>
Ein heftiges Zittern rauscht in Wellen durch Lenas Körper. Alles ist verschwommen. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch die richtigen Tasten trifft. Ihr Mund fühlt sich staubtrocken an. Mit großer Mühe führt Lena die Tasse an ihre Lippen. Der Tee ist eiskalt. Jeder Schluck sticht unter ihrem Schulterblatt. Lena ist fest davon überzeugt, dass die Seele des Menschen unter dem rechten Schulterblatt wohnt.
>bist du noch da? >>
>natürlich. ich gehe doch jetzt nicht weg. ich wollte dich nur nicht unterbrechen. >>
>gut. weißt du, mir war nicht klar, dass man an seiner zunge ersticken kann. das habe ich erst in der ausbildung gelernt. ich hätte es ganz leicht verhindern können. ich hätte sie nur auf der Seite liegen lassen müssen. >>
>ich habe das auch erst beim führerschein gelernt. niemand weiß das mit 13. vielleicht hätte luisa es auch in der seitenlage nicht überlebt – oder nur mit schweren schäden? >>
>sie sagten, luisa hätte lediglich eine kleine schwellung im gehirn und ein paar prellungen gehabt. sonst war sie wohl ganz in ordnung gewesen. das hat mich besonders fertig gemacht. und mein vater hat getobt. >>
>was für ein albtraum. arme lena. er kann dir aber doch nicht ernsthaft vorwerfen, an luisas tod schuld zu sein. >>
>da hast du recht. wenn jemand schuld ist, dann wohl er mit seiner cleveren idee. >>
>das ist aber auch nicht fair. >>
Erst jetzt merkt Lena, dass ihr Gesicht verquollen und ihr T-Shirt nass ist. Auf dem Tisch steht eine Küchenrolle. Lena angelt danach um sich die Tränen wegzuwischen und die Nase zu putzen. Ihr Kopf ist leer.
>warum nimmst du meinen vater in schutz? hätte er mir luisa nicht aufgehalst oder wäre er rechtzeitig zurück gewesen, um uns – wie versprochen – mit dem auto zu fahren, würde luisa heute noch leben. >>
>oh, lena! es macht doch keinen sinn, sich die schuld hin und her zu schieben. das hilft keinem. habt ihr eigentlich auch mal zusammen getrauert? >>
„Noch eine interessante Frage …“, denkt Lena
>zusammen? nein. jeder für sich, auf seine weise, denke ich. >>
>haben sie den kerl noch erwischt? >>
>ja. er hat das ortseingangsschild umgenietet und sich dann entschieden, erst den notdienst anzurufen und danach die polizei, um beide unfälle zu melden. selbstanzeige. die strafe war echt lächerlich. >>
>krass. hoffentlich sucht luisa ihn jeden tag heim. >>
>allerdings. und jede beschissene nacht! >>
>jetzt verstehe ich auch, warum du auf die anonymen so allergisch reagierst. sowas lässt einen sicher nicht mehr los. bist du deshalb zum rettungsdienst gegangen? >>
>auch. ich habe zwei ehrenrunden in der schule gedreht und dann erschien mir das alles so sinnlos. die beste alternative, fand ich, war leben zu retten. ursprünglich wollte ich ja rettungssanitäter werden. hat aber auch nicht geklappt. >>
>warum nicht? >>
>das ist eine lange geschichte. >>
>ich habe zeit. >>
>heute nicht mehr. >>
>du wärst bestimmt eine tolle rettungssanitäterin geworden. ich würde mich sehr gern von dir wiederbeleben lassen. ☺ >>
>träum weiter! das machen wir nicht mehr mund zu mund. dafür gibt es beatmungsbeutel. und wir pumpen natürlich. >>
>pumpen klingt auch gut. ☺ >>
>herzdruckmassage, du idiot. natürlich mit defibrillator. weißt du hoffentlich. >>
>nö. >>
>solltest du aber. bei gelegenheit zeige ich dir so ein ding mal. ist wichtig. >>
>unbedingt! wann? ☺ >>
Lena ärgert sich über ihre Steilvorlage:
„Der Typ gibt wohl nie auf.“
Sie zieht die Decke fester um ihre Schultern. Lena ist erschöpft. Björn scheint das zu merken:
>wirst du jetzt schlafen können? >>
>na klar. wie ein stein. >>
>gut. dann muss ich mir also keine sorgen machen? >>
>doch! immer muss ich mir die nächte mit dir um die ohren schlagen. schläfst du eigentlich nie? >>
>hin und wieder. dann träume süß, meine königin der nacht! >>
>soll das ein kompliment sein? so ein ding steht bei meiner mutter auf dem fensterbrett. >>
>was für ein ding? >>
>eine königin der nacht. ist ein ganz häßlicher kaktus. >>
>und warum stellt man sich sowas aufs fensterbrett? >>
>weil er einmal im jahr richtig tolle blüten hat. sie blühen nur eine einzige nacht. es sind riesige vanillegelbe kelche. gigantisch! damit lockt der kaktus kleine fledermäuse an. >>
>der kaktus frisst fledermäuse? wie ekelhaft! >>
>lol! natürlich nicht, du idiot. er lässt sich von fledermäusen bestäuben. witzig, oder? so viel verschwendete schönheit habe ich nie begriffen. fledermäuse sind doch stockblind. >>
>dafür hören sie ziemlich gut. vielleicht sind die großen blütenkelche in wahrheit kleine grammofone, die ultraschall-sinfonien absondern. das hat bisher nur noch keiner gehört. außer den fledermäusen, natürlich. >>
>ähmmm, hast du irgendwelche komischen pilze gegessen? kannst du mir was davon abgeben? ☺ >>
>dann müsste ich ja vorbeikommen. >>
>stimmt. lass uns da morgen lieber noch mal drüber reden, wenn du wieder klar im kopf bist. heute bin ich zu müde. da sage ich vielleicht sachen, die ich später bereue. >>
>o.k. ich erinnere dich daran. >>
>von mir aus. und jetzt schlaf gut. >>
>du auch, lena. und hey, danke für dein vertrauen. ich fühle mich wirklich geehrt. gute nacht! >>
Lena lächelt glücklich und schließt den Chat.
„Ach, Björn, wenn du doch nur ein bisschen näher wohnen würdest. Dann könnte glatt was aus uns werden.“
Epilog
Lena und Björn werden weitere fünf Wochen miteinander chatten, bevor sie sich zum ersten Mal treffen. In diesen Wochen unterzieht sich Lena einer Kohldiät und nimmt neun Kilo ab. Sie sucht einen Offenbacher Szenefrisör auf, der das kreischende Rot ihrer Haare in einen satten Mahagoniton verwandelt und ihr gleich noch einen stylischen Haarschnitt verpasst. Der Spaß kostet sie 130 Euro. Beim nächsten Neumond streicht Lena ihr Wohnzimmer vanillegelb und stellt alle Möbel wieder an ihren Platz.
Bei ihrem ersten Treffen werden Björn und Lena es langsam angehen lassen – ganz platonisch, obwohl Lena manchmal von mehr träumt. Aber träumen darf man ja und im Grunde ist es ihr auch lieber so. Lena ist nach dem Treffen überzeugt, dass Björn, was sein Alter angeht, ein wenig gemogelt hat. Der Rest gefällt ihr gut. Wer wollte da kleinlich sein, wenn es sonst passte.
Einige Wochen nach ihrem Treffen wird sich Lena noch eine zweite Identität im gleichen Chat zulegen und unter ihrem neuen Pseudonym Kontakt zu einem gewissen #Korben aufnehmen, von dem Clara ihr erzählt und der im wahren Leben Alex heißt.
Von dem Unfall-Flüchtigen wird Lena nie wieder etwas hören. Alles andere hätte sie auch gewundert. Hingegen wird sich eine Susanna May in der Notrufzentrale melden und viele Fragen zu diesem Unfall stellen. Zufällig landet sie direkt bei Lena. Dieser Zufall nährt Lenas Überzeugung, dass der Zufall nicht zufällig, sondern ein listiges Eichhörnchen ist, das man gut im Blick behalten sollte.