Knoten 3: Scham

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Alex-45-Berufsschullehrer

Darmstadt, 25. April 2012

>>lena hat den chatroom verlassen<<

Lustlos klimpert Alex auf seiner Tastatur herum. Er schielt kurz auf die Zeitanzeige oben rechts am Bildschirmrand: 02:19 Uhr. Es ist die Zeit, in der sich Alex schrecklich überflüssig vorkommt: zwischen ein und vier Uhr nachts, wenn er nicht schlafen kann.

Auf der Couch, vor dem Fernseher, da überfiel ihn oft diese Müdigkeit, die sich gerade nicht mehr einstellen will. Auch heute war Alex nach kurzem Ringen mit sich und dem Programm in einen erschöpften Schlaf gesunken.

Am besten schließ er, wenn im Hintergrund Bomben, Autos oder ganze Planeten explodierten. Sobald der Superheld die Welt gerettet hatte und Ruhe einkehrte, wachte Alex auf. Dann taumelte er ins Bad, um die Zähne zu putzen. Danach war er wieder glockenhellwach. So ging das schon seit Wochen. Es zehrt an seinem Körper.

Im Bett wartete Alex nie länger als eine Stunde auf den Schlaf. Eine Stunde, in der er die Glockenschläge der Kirchturmuhr mitzählte. Beim vierten Schlag stand er wieder auf, um sich abzulenken.

Früher hatte er die Zeit gut genutzt und Klausuren korrigiert. Das war, bevor er das Web 2.0 entdeckt hatte. Viele Menschen schienen unter Schlafstörungen zu leiden. Die Chats waren voll von ihnen. Also: kein Grund zur Panik. Als Lehrer konnte sich Alex nach der Schule noch etwas ausruhen. Er fragte sich oft, wie andere das durchhielten? Lena zum Beispiel, die im Schichtbetrieb arbeitete.

„Ob Lena wirklich Lena heißt? …“, fragt sich Alex. Den Namen hat sie ihm erst vor kurzem verraten. Bis dahin war sie stur #Luna13 geblieben – eine von der übervorsichtigen Sorte. Andere Chatterinnen waren zutraulicher. Da konnte Alex schnell mal im Internet stöbern, was ihn bei einem Treffen erwarten würde. Er selbst firmierte nur noch unter verschiedenen Pseudonymen. Aus gutem Grund.

***

Vor einem Jahr hatte sich Alex mit einer Frau getroffen. Nicht sein erstes Date mit einer Chatterin. Alex hatte die Bergstraße für entfernt genug gehalten, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Doch die Sache endete in einem Fiasko.

Mandy Köstner war nicht blond, sondern schlecht gebleicht, und eher voll vor dem schlank. Sie entsprach ganz und gar nicht dem Bild, das sich Alex aufgrund ihrer Selbstbeschreibung gemacht hatte. Wäre sie nicht gleich auf ihn zugespurtet, er hätte sie nicht gefunden. Auch mündlich war Mandy eine große Enttäuschung. Das Schreiben lag ihr mehr. Und wie ihr Vorname es vermuten ließ, sächselte sie gewaltig. Das quälte Alex‘ empfindliche Ohren.

Aus dem Chat wusste er bereits, dass Mandy eine Zugezogene aus der Gegend um Leipzig war. Das zähe Gespräch plätscherte belanglos vor sich hin. Mandy schien sich nicht daran zu stören. Sie wirkte so läufig, dass es fast an Nötigung grenzte. Alex hätte ein entwürdigend leichtes Spiel mit ihr gehabt, wäre er auf ein Abenteuer aus und Mandy sein Typ gewesen. Doch Alex suchte nach der Herzdame.

Ein Anstandsbier gab er ihr, dann wollte er sich davonzustehlen. Doch Mandy war schneller und bestellte noch eine zweite Runde, bei der sie die Eingangstür nicht aus den Augen ließ. Das machte Alex nervös. Plötzlich entspannten sich ihr Gesichtszüge. Mandy grinste an seinem linken Ohr vorbei, wo sie offenbar jemanden entdeckt hatte, der sich ihrem Tisch näherte. Als Alex sich umdrehte, war es bereits zu spät.

Er kannte den jungen Mann aus seiner Mechatroniker-Klasse. Kevin Köstner war ein Muskelprotz mit schlichtem Gemüt und ohne erkennbares Bildungsinteresse. Damit befand er sich in bester Gesellschaft. Die Klasse war insgesamt eher faul. Ständig musste er den Schülern die Handys wegnehmen, damit sie seinem Unterricht folgten. Jetzt stand der Kerl hier breitbeinig vor ihm.

Kevin fand die Sprache zuerst wieder:
„Hallo Herr Seifo-o-rt ?!“
Er zerrte den Namen sächsisch lang und grinste Alex schamlos ins Gesicht dabei. Der hielt die Luft an, während Mandys Blick ratlos vom einen zum anderen pendelte:
„Nää! … Ihr kennt euch?“
Kevin nickte vielsagend:
„Herr Seifort is mein GK-Lehrer.“
Seine Mutter lachte hysterisch:
„No, so ähn Zufall. Nu setz dich doch zu uns, Schatz.“
Sie griff schon nach einem Stuhl vom Nachbartisch. Doch Kevin bedeutete ihr mit seiner riesigen Pranke es zu lassen. Herausfordernd starrte er Alex an, der verlegen auf seine Uhr blickte:
„Ups, ist das spät geworden. Du kannst meinen Stuhl nehmen, Kevin. Schade, dass ich euch schon verlassen muss. Hätte gern noch ein bisschen mit euch geplaudert.“
Alex erhob sich und klopfte auf den Tisch:
„Viel Spaß noch euch beiden. Kevin, wir sehen uns nächste Woche.“
Mandy stand der Mund offen bis Alex zur Tür hinaus war.

Als er das Café verlassen hatte, raste sein Herz wie nach einem 100-Meter-Spurt. In seinem Gehirn überschlugen sich die Gedanken:
„Hoffentlich weiß Kevin nichts über die Chat-Aktivitäten seiner Mutter. Vielleicht war es purer Zufall gewesen, dass er gerade jetzt in diesem Café auftauchte, aber …“
Viel wahrscheinlicher war, dass Mandy sich eine zweite Meinung zu ihm hatte einholen wollen.

An diesem Tag stellte Alex neue Chat-Regeln auf:
„Erstens: Keine Dates mehr im Umkreis von 100 Kilometern. Zweitens: Vorher mittels Internet-Recherche sicherstellen, dass das Risiko, beim ersten Aufeinander-Treffen enttäuscht zu werden, überschaubar ist. Drittens: Falls nötig, nach dem Date sofort das Pseudonym wechseln.“

An diesem Tag begannen auch Alex’ Schlafprobleme. Die Unruhe war berechtigt. Bereits in der nächsten Unterrichtsstunde schob Kevin ihm beim Hinausgehen einen Zettel zu:

Hallo Herr Seifert,
ich denke, es ist in ihrem Interresse, wenn ich unser kleines Geheimnis für mich behalte. Es ist natürlich auch in meinem Interresse. Muss ja nicht gleich die ganze Schule wissen, dass meine Mutter wegen ihnen zuhause hockt und heult. Trozdem können Sie sich am Ende vom Schuljahr mal dran erinnern. Weil ich tu es bestimmt. Und nehmen Sie mir nie mehr das Handy weg!! Dem Lucas auch nicht!! Hoffe, dass geht klar. Kevin K.

Im Deutsch-Unterricht schien Kevin auch nicht besser aufzupassen. Alex musste sich in Acht nehmen vor ihm. Wütend zerknüllte er den Zettel und schob ihn in seine Jackentasche.
„Was kann der kleine Scheißer mir schon anhaben? Eine blutige Nase wird er sich holen. Sonst gar nichts! …“
Trotzdem ging Alex von diesem Tag an etwas nachsichtiger mit Kevin und Lucas um, wodurch das Unterrichtsklima unerträglich wurde. Dank seiner guten Kontakte zur Schulleitung konnte er die Klasse am Ende des Schuljahrs abgeben. Kevin erhielt eine unverdient gute Note.

In besagtem Chat brach Alex die Zelte ab. Es gab genügend andere, in denen sich Frauen endlich einmal von einem Kerl verstanden fühlen wollten. Darin besaß er Übung. Schon als Teenager hatte Alex nicht zum Macho getaugt. Die Rolle stand denen zu, die größer, stärker und cooler waren als er. Alex musste sich mit der zweiten Reihe begnügen. Er war der Seelentröster, der die gefledderten Leichen aufsammelte.

Im Chat gab es viele Seelen zu trösten. Hier wurde Fremdgehen neu definiert. Viele Chatterinnen hingen in ihren Beziehungen fest. So wie Anja Rothäuser, eine frustrierte Hausfrau und Mutter aus Ulm. Ihr Mann hatte die beiden mittags beim Chatten erwischt, während sie mal kurz auf der Toilette war – ohne den Bildschirm zu sperren. Alex verstand zunächst kein Wort, als Anja sich zurückmeldete:

>jetzt hör mir mal genau zu, du wichser: wenn du hier noch ein einziges wort schreibst, setzt du deine eier auf’s spiel! klar? >>

Alex durchzuckte es schmerzvoll:

>was soll das, anja? findest du das etwa witzig? >>

>tut sie sicher nicht. aber wenn du glaubst, ihr könntet hier tagsüber ne runde cybersex schieben, während ich die kohle ranschaffe, dann bringst du dich ganz massiv in gefahr, du verdammtes arschloch! ich fin >>

Dann brach der Chat ab. In ihrer Not hatte Anja den Stecker gezogen und noch vor den Augen ihres Mannes ihr Konto im Chat gelöscht.

Inzwischen hatte Alex Lena im Chat kennengelernt, ein sehr gutes Bauchgefühl bei ihr entwickelt und deshalb seine Regel Nr. 1 in den Wind geschossen. Für ein Date wohnte sie nämlich zu nah. Aus den spärlichen Informationen, die sie bereit war, von sich preiszugeben, konnte Alex zusammen zimmern, wo Lena arbeitete.

Um ganz sicher zu gehen, hatte sich Alex einige Tage in Folge vor Lenas Arbeitsstätte auf die Lauer gelegt. Er wusste: Wenn sie länger nicht online war, schob Lena meistens eine Doppelschicht. Daher war ihm gestern die Gelegenheit günstig erschienen, einen weiteren Abstecher nach Offenbach zu machen.

Und dann: WHAM!! … hatte sie mit einer Kollegin plaudernd vor der Tür gestanden. Er war sich sofort sicher gewesen, dass sie es ist. Sie entsprach voll und ganz seinen kühnsten Erwartungen. Kein Wunder hielt sie sich mit Details bedeckt. Beinahe wäre er wie ein blöder Gaffer aufgeflogen, bevor er den Startknopf seiner Harley gefunden hatte.

***

Um sieben Uhr wird Alex vom Wecker aus dem Tiefschlaf gerissen. Benommen blickt er sich im Arbeitszimmer um und stellt fest, dass er im Jogging-Anzug vor dem Bildschirm eingeschlafen sein muss. Alex loggt sich noch einmal in den Chat ein, um Lena eine Nachricht zu hinterlassen. Sie ist nicht online.
„Gut so. Hoffentlich schläft sie noch – das arme Ding …“, denkt Alex und erinnert sich an Lenas tote Schwester. Die Geschichte hat ihn bis in den Traum begleitet. Alex tippt:

>guten morgen lena! ich hoffe, du hast gut geschlafen. ich warte auf deinen vorschlag, wann und wo wir uns treffen. ob mit oder ohne defibrillator, ist mir gleich. am besten irgendwo in deiner nähe. ich werde da sein. >>

Am Abend findet er Lenas Antwort. Jetzt ist sie auch online:

>du bist wirklich eine nervbacke! 1. juni, 20:30 uhr, café nachtschalter in der senefelderstraße in offenbach. hausnummer weiß ich nicht. kriegst du das hin? >>

>da kannst du gift drauf nehmen. >>

>heiße ich vielleicht julia? woran werde ich dich erkennen? >>

>keine sorge, ich erkenne dich. >>

>haha! … woher willst du das wissen? >>

>weil ich heute nacht von dir geträumt habe. ☺ >>

>spannend. wie habe ich denn ausgesehen? >>

>schön! ☺ ☺ ☺ >>

>bist du dir sicher, dass ich es war? >>

Alex grinst in sich hinein: „Wenn du wüsstest, wie sicher! …“

>entspann dich, lena, alles wird gut. >>

>na hoffentlich. was machst du jetzt noch? >>

>nicht viel: essen, fernsehen. >>

>gibt es einen guten film? >>

>ist mir egal. ich schlafe sowieso dabei ein. hören wir morgen wieder voneinander? >>

>natürlich. warum denn nicht? >>

>man weiß ja nie … >>

>stimmt. ☺ schlaf gut. >>

Alex fährt den Rechner runter und steigt unter die Dusche. Er ist zufrieden mit sich und der Welt und auf dem besten Weg, einen kapitalen Bock zu schießen.
„Ob Thorsten, Rainer und Carlo mir das wohl zutrauen würden? …“

***

Alex dachte nur noch selten an Thorsten, Rainer und Carlo – seine größeren, stärkeren und cooleren Freunde aus Teenager-Tagen. Ein Wunder, dass dieses Dreigestirn sich überhaupt mit ihm abgegeben hatte. Doch Alex’ Eltern besaßen Geld. Viel Geld.

Alex wohnte in einer großen Villa. Seine Mutter fuhr zwei vorzeigbare Autos, die sie nutzen konnten, und es gab eine bestens ausgestattete Bar im Haus. Auch der Swimming-Pool im Garten, den man im Winter überdachen und beheizen konnte, überzeugte Thorsten, Rainer und Carlo. Das angrenzende Badehäuschen war der perfekte Rückzugsort, um ungestört mit Mädchen zu fummeln.

Dass Alex’ Eltern noch ein ähnlich pompöses Anwesen auf Mallorca ihr Eigen nannten, vereinfachte die Dinge erheblich. Wenn seine Alten sich dort aufhielten, groovte Alex mit seinen Freunde in Ritas 450-SL-Cabrio durch Stuttgart. Und an den Wochenenden brachten sie nicht nur den Pool, sondern auch die Nachbarn zum Schäumen.

Rita Seifert mochte es, wenn ihr Sohn seine Freunde zu sich einlud. Sie sonnte sich gern in testosteronhaltigen Blicken. Rita war für manchen klebrigen Traum von Thorsten, Rainer und Carlo verantwortlich. Alle drei beneideten Alex offen um seine schöne Mutter. Ihre Kommentare waren oft schlüpfrig und Alex peinlich. Er mochte es lieber, wenn seine Mutter sich auf Mallorca sonnte als in den Blicken seiner Kumpel.

Gerd Seifert schien es vollkommen gleichgültig zu sein, wo seine Frau sich sonnte. Hauptsache, sie ging ihm dabei nicht auf die Nerven. Als einflussreicher Bauunternehmer und aktiver Christdemokrat kannte er wichtige Leute in entscheidenden Positionen. Nur deshalb hatte er drei der alten Arbeiter-Häuschen am Stuttgarter Killesberg niederreißen und an deren Stelle eine protzige Villa errichten dürfen. Sie wurde von einem Sicherheitszaun und vielen Überwachungskameras beschützt. Ein neureiches Ärgernis für alle anderen Anwohner.

Wenn Rita in Stuttgart war, stand ihr Mercedes-Cabrio nur selten in der Garage. Ritas Tag begann erst, nachdem die Kinder morgens aus dem Haus waren. Dann stand sie auf und trank ihren Kaffee im Tennis-Club. Nach einer lockeren Trainingseinheit ging sie entweder zur Massage, zur Kosmetikerin oder zum Frisör und anschließend auch gern mal zum Shoppen in die Stadt, wo sie sich mit Freundinnen zum Lunch traf.

Nachmittags vertrieb sie sich die Zeit als Kunsthändlerin. So stand es auf ihrer Visitenkarte. Das ganze Haus glich einer Galerie. Alex’ Vater spottete oft, dass zum Handeln nicht nur das Kaufen, sondern auch das Verkaufen gehören würde. Mit dem postmodernen Geschmiere, auf das sich Rita spezialisiert hatte, konnte Gerd nichts anfangen. Doch er hakte es als Investment ab und ließ sie gewähren.

Sein Arbeitszimmer erklärte Gerd zur kunst- und familienfreien Zone. Hier verbrachte er die späten Abendstunden mit der Zeitung und einem torfigen Whiskey im Eames-Sessel. Manchmal zündete er sich eine Zigarre an, setzte sich die Kopfhörer der Bose-Anlage auf und hörte Jazz. Dabei durfte man ihn nicht stören. Vor halb neun war Gerd Seifert abends nie zuhause. Und auch die Wochenenden verbrachte er lieber auf einer Baustelle als mit den Kindern im Zoo. Bei ihm zuhause hingen genug Exoten herum.

Aufgrund der politischen Gesinnung seines Vaters hatte Gerd Seifert in den 30er Jahren Privilegien genossen, für die er nach dem Krieg einige Schmähungen hinnehmen musste. Gerd sprach nie über seine Eltern und Rita vermied es, mit ihren Eltern zu sprechen. Auch sie schämte sich für ihre Herkunft. Nur ein einziges Mal – zur Beerdigung ihrer Mutter – hatte sie die Kinder in ihr Elternhaus mitgenommen. Alex erinnerte sich dunkel an einen zerknitterten Mann mit dicken Tränensäcken und stinkender Pomade im Haar. Als der Mann den Kindern einen Gefrierbeutel mit Bonbons hingehalten hatte, wollte Rita nicht, dass sie zugriffen.

Sämtliche Großeltern wurden in einen undurchdringlichen Mantel des Schweigens gehüllt. Gerd betonte, gebürtiger Christdemokrat zu sein, und Rita behauptete, als junge Auszubildende in Gerds Firma erst volljährig schwanger geworden zu sein. Punkt! Dieser Punkt war der unverhandelbare Anfang von Alex’ Stammbaum, der nun mal einige blinde Flecken aufwies. So what?

Rita fing erst an, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen, als diese den Windeln entwuchsen. Milchflaschen, Schnuller und Strampler waren nicht ihr Ding. Dafür gab es Martha. Martha war Haushälterin und Kinderfrau in Personalunion. Rita übernahm das Zepter, als Alex und seine Schwester Ina in eine Kleidergröße passten, die man mit einem Markenlabel kennzeichnen konnte.

Kam Alex einmal verdreckt nachhause, schalt Rita ihn:
„Schäm dich! So verhält sich doch kein großer Junge.“
Diesen Satz hörte Alex oft. Im Grunde hatte er nie erfahren, was ein kleiner Junge war.

Bevor Martha das Haus verließ, stellte sie das Abendessen auf den Tisch. Die Kinder setzte sie vor den Fernseher – wie mit Rita vereinbart. Dort warteten sie geduldig auf ihre Mutter, die großen Wert auf eine gemeinsame Mahlzeit am Tag legte. Schon in jungen Jahren sahen Ina und Alex sich alles an, was das Vorabend-Programm auf drei Sendern in Deutschland ausstrahlte.

Als sie neun und elf Jahren alt waren, fragten sich die Geschwister oft, wozu ihre ständig abwesenden Eltern überhaupt Kinder in die Welt gesetzt hatten. Auf der Suche nach Antworten errechneten sie den Altersunterschied zwischen Gerd und Rita und die Monate, die zwischen deren Hochzeit und Inas Geburt lagen. In beiden Deltas steckte die magische Zahl Sieben. Aus den Büchern, die Martha ihnen vorgelesen hatte, wussten sie, dass es sieben Zwerge im Wald, sieben Geißlein im Bauch des bösen Wolfs und sieben Fliegen auf dem Marmeladenbrot des tapferen Schneiderleins gab. Da sie die Zahl nicht deuten konnten, brachte sie das auch nicht weiter.

Nach zweimal sieben Jahren warteten Alex und Ina auf niemanden mehr, sondern machten getrennt voneinander, was sie wollten. Sie hatten genug sinnlose Zeit miteinander verplempert.

Wie Rita absolvierte auch Ina ihre Ausbildung in Gerds Firma. Danach wurde sie die gefürchtete Sous-Chefin. Alex und Ina waren sich selten einig, außer darin, dass sie ihren Vater einmal mit den Füßen nach vorne aus seiner Firma tragen müssten, um ihn zur Ruhe zu betten.

Ina heiratete einen Immobilien-Makler, der sich um Seiferts Objekte kümmerte. Alex mochte den Kerl vom ersten Moment an nicht! Jens sah unverschämt gut aus, was man von Ina nicht behaupten konnte. Das wusste sie auch. Oft kokettierte sie auf Partys, Jens habe sie nur geheiratet, weil sie ihn sich habe leisten können. Das Dumme war, man glaubte ihr das sofort.

Jens zog eine süßsaure Miene dazu und rächte sich mit einem innigen Verhältnis zu seiner Schwiegermutter, die auch in reiferen Jahren die Fantasien junger Männer zu beflügeln verstand. Niemand wagte zu schätzen, wie viel sie dafür ausgab. Das Verhältnis zwischen Rita und Ina blieb für immer gestört. Ina verzieh ihrer Mutter nicht, dass sie schön war, und Rita verzieh ihrer Tochter nicht, dass sie sich für Gerds Gene entschieden hatte. Genau wie Alex, zu Ritas Bedauern.

Zu seinem sechszehnten Geburtstag hängte Rita ihm eine JOOP!-Jacke aus schwarzem Nappaleder in den Schrank. Er ignorierte sie beflissentlich, bis Thorsten das edle Stück beeindruckt zum Vorschein brachte. Sie hatten schon zwei Pfeifchen geraucht und hielten es nach kurzer Beratung für angemessen, die Jacke vor der Inbetriebnahme mit Bier zu taufen. Anschließend panierten sie sie in warmer Grillasche und sprangen zu #The-Police solange grölend auf ihr herum, bis die Polizei leibhaftig erschien und das Ritual beendete. Danach wies das Leder die richtige Patina auf, damit sie zum Moped-Fahren taugte.

Sonst war Alex der Parka lieber, den er gebraucht in einem US-Military-Laden erstanden hatte. Der Parka war nur einer von vielen Sargnägeln, die Rita ihrem Sohn gern zuschrieb:
„Dass du dich nicht schämst, so herumzulaufen! Du kannst wirklich froh sein, mit dem Krieg nie etwas zu tun gehabt zu haben. Vielleicht klebt ja noch Blut an dem scheußlichen Ding.“
Da die JOOP!-Lederjacke inzwischen auch klebte, gab Rita es auf, ihren Sohn mit Designer-Stücken auszustaffieren. Er trug ohnehin nur noch Sweatshirts, Jeans und Cowboy-Stiefel – genau wie seine Freunde. Etwas anderes kam Alex nicht mehr in den Schrank. Luxus hielt er für eine Krücke des Establishments. Doch wenn Thorsten, Rainer und Carlo Spaß daran fanden: bitteschön!

Manchmal saß er mit ihnen und einigen Whiskey-Cola zu viel im Kopf am Pool und starrte bekifft auf das goldene „S“, das Rita von einem Innenarchitekten hatte entwerfen lassen. Es zog sich durch die ganze Villa und glitzerte auch am Grund des Pools. Durch die leichte Wellenbewegung des Wassers geriet es sanft ins Schlingern. Immer wieder zogen Thorsten, Rainer und Carlo ihren Freund damit auf:
„Hey ES, können wir Pizza bestellen?“
„Hey ES, schmeißt du mal den Cabrio-Schlüssel rüber?“
„Hey ES, wir holen mal Whiskey aus dem Keller – o.k.?“
„Hey ES, wo hat denn Rita ihre heiße Wäsche versteckt? Hahaha …“
Sie erwarteten keine Antwort, sondern Gehorsam. Da sie alle Steven-King-Fans waren, trug Alex es mit Fassung.

Dann stieß Conny zur Clique. Sie war neu an der Schule und eines dieser Mädchen für den zweiten Blick, weshalb sowohl Thorsten als auch Rainer und Carlo sie übersahen. Conny besaß ein loses Mundwerk, eine wilde Lockenmähne und viele Teesorten, die sie ihren Gästen in Porzellan-Schälchen servierte. Solche Sachen brachte Connys Vater von seinen Reisen mit. Keiner verstand, was dieser Mann beruflich machte, aber es schien aufregend zu sein und deshalb wollten Thorsten, Rainer und Carlo später mal das Gleiche werden. Die Jungs hatten einen solchen Respekt vor Connys Vater, dass sie sich nicht alleine mit ihr ins Badehäuschen trauten. Außer Alex. Danach waren die beiden unzertrennlich gewesen.

Nach dem Abitur zerfiel die Clique. Nur Carlo und Rainer blieben zusammen. Sie zogen nach München und studierten Elektrotechnik – wie Connys Vater. Sie hörten nie wieder etwas von ihnen. Thorsten machte eine Banklehre und übernahm später die Leitung einer Stuttgarter Sparkassen-Filiale. Sie sahen ihn manchmal in Begleitung eines neuen Freundes. Alex und Conny mutmaßten, dass Thorsten womöglich schwul war, und im Badehäuschen mit den Mädchen nur geredet hatte. Alex spürte keine Sehnsucht nach Thorsten, Rainer oder Carlo. Wenn er an sie dachte, stiegen kaum gute Erinnerungen, dafür glühende Schamgefühle in ihm auf.

Alex studierte Lehramt für Berufsschulen. Sein Wunsch, eine Automechaniker-Lehre zu machen, war bei seinen Eltern auf taube Ohren gestoßen. Mit seinem Vater unter einem Dach zu arbeiten, konnte sich Alex wiederum nicht vorstellen. Er mietete eine große Garage und richtete sich eine Motorrad-Werkstatt darin ein. Hier verbrachte er den größten Teil seiner Freizeit zusammen mit einer Ducati und einer Brough Superior aus seinem Geburtsjahr. Für den täglichen Bedarf hatte Alex einen Harley-Shopper aufpoliert. Alte Motorräder waren der einzige Luxus, den Alex sich gönnte.

***

Am 1. Juni schwingt sich Alex nach dem Unterricht auf seine Harley und fährt nachhause. Dort kocht er sich ein Mittagessen, wofür er sonst keine Zeit aufwendet. Lieber setzt sich Alex mit einem belegten Brot an den Rechner. Aber heute ist ein ganz besonderer Tag. Es ist sein Herzdame-Tag.

Alex Blut zirkuliert ruhig und spült eine angenehme Dosis Adrenalin durch seine Adern. Als sein Handy klingelt, steigt der Pegel. Hatte er Lena seine Nummer gegeben? Er kann sich nicht daran erinnern. Im Display steht die Nummer seiner Schwester. Er schwankt, ob er den Anruf überhaupt entgegen nehmen soll, doch Ina meldete sich immer nur im Ernstfall. Es musste also etwas Wichtiges sein.

☎ „Alex? Hier ist Ina.“

☎ „Habe ich gesehen. Was ist los?“

☎ „Papa hatte heute Morgen einen Schlaganfall. Er ist jetzt auf der Intensiv-Station.“

Alex Adrenalin-Pegel steigt weiter. Sein Herz pumpt:

☎ „Scheiße! Wie geht es ihm?“

☎ „Die Ärzte können noch nichts Genaues sagen. Aber es sieht nicht gut aus. Es wäre besser, wenn du kommst.“

Tiefer Groll steigt in Alex auf:
„Das darf nicht wahr sein! Nie war dieser Mann für mich da und jetzt schiebt er sich wie ein Koloss zwischen mich und mein Date. Warum heute? Hätte er sich keinen anderen Tag aussuchen können? Selbst wenn ich sofort losfahre, bin ich heute Abend nicht rechtzeitig zurück. Wer weiß, was mich in Stuttgart erwartet. Sicher dreht Mama komplett durch. Sie hört ja nicht auf Ina.“
Alex ist ratlos:

☎ „Und jetzt?“

☎ „Wie, und jetzt? … Dein Vater liegt im Sterben, Alex.“

☎ „Ganz langsam, Ina. Das wissen wir noch nicht. Warten wir doch erst mal ab, was die Ärzte sagen.“

Ina schweigt verständnislos. Alex ergänzt:

☎ „Ich meine, wollen wir nicht erst mal bis morgen warten und dann kann ich mich immer noch auf den Weg machen.“

☎ „Vielleicht ist er dann schon tot, Alex.“

☎ „Vielleicht stirbt er auch, während ich auf der Autobahn bin. Das käme auf’s Gleiche raus.“

Ina schluckt. Dann wird sie einsilbig:

☎ „Wenn du meinst.“

☎ „Du kannst mich ja per SMS auf dem Laufenden halten.“

☎ „Natürlich! Deine Entscheidung.“

Sie klingt maßlos enttäuscht von ihrem kleinen Bruder.

☎ „Jetzt rechne doch nicht gleich mit dem Schlimmsten, Ina. Wir wissen beide, was für ein zäher Brocken er ist. Wie geht es Mama überhaupt?“

☎ „Die ist beim Frisör.“

„Was?!?“

☎ „Sie meinte, so auf die Schnelle bekäme sie keinen alternativen Termin und im Moment könne sie ohnehin wenig für Papa tun. Unglaublich …“

☎ „Scheint, als sei sie etwas optimistischer als du.“

☎ „Ach, Quatsch, Alex! Sie ist einfach strunzhohl in der Birne. Aber wenigstens gut frisiert bei der Beerdigung.“

☎ „Dass du immer gleich ans Schlimmste denken musst. Auf jeden Fall wird Papa sehr froh sein, dich jetzt an seiner Seite zu haben. Mama würde ihn sicher nur aufregen.“

Ina holt tief Luft:

☎ „Sicher. … Ich habe dich informiert. Mach damit, was du willst. Ich gehe jetzt wieder zu ihm rein.“

☎ „Ja, mach das. Schreib mir bitte eine SMS, wenn sich sein Zustand verschlechtert?“

☎ „Na klar. Ich schreibe dir eine SMS.“

☎ „Kopf hoch, Ina! Das wird schon wieder.“

Beim letzten Satz hat Ina das Gespräch bereits gekappt.

Alex macht sich zeitig auf den Weg nach Offenbach. Er möchte vor Lena dort sein und ihr lässig zuwinken, wenn sie das Lokal betritt. Vor zwei Tagen hat er einen Tisch auf den Namen #Björn reserviert.

Das Lokal ist nicht schwer zu finden. Nach einem Umweg über die Toilette, wo er seine vom Helm verdrückten Haare in Form zupft, ordert Alex bei der Kellnerin ein Bier. Sie ist schwarz gekleidet und an den Augenbrauen gepierct. Immer mehr Leute betreten das Lokal, doch Lena ist nicht dabei. Alex wird langsam unruhig.

Um zehn vor neun, steht eine zweite Kellnerin an seinem Tisch. Auch sie trägt schwarze Kleidung, jedoch nur einen zierlichen Nasenring im Gesicht. Ihre Brille ist leicht beschlagen. Sie blickt ihn fragend an.
„Voll der Gothic-Laden …“, denkt Alex. „Aber aufmerksam sind sie.“
Er nickt der Kellnerin zu:
„Ja, ich nehme noch ein Bier.“
Die Frau schüttelt den Kopf.
„Ich bediene hier nicht. Ich bin Lena und suche Björn. Der Typ an der Bar hat mich zu diesem Tisch geschickt. … Sind Sie … bist du Björn?“
Ihr Tonfall klingt zweifelnd und Alex’ Gesicht fühlt sich heiß an. Fünf Sekunden lang starrt Alex die Frau an seinem Tisch einfach an. Dann weckt sie ihn von den Toten auf:
„Hallo? Alles in Ordnung? Bist du nun Björn oder nicht?“
Es wäre ein Leichtes für Alex, jetzt nein zu sagen und die Flucht zu ergreifen. Aber der Schock lähmt seine Glieder.
„Wer, ich? …“
Auch seine Gehirnzellen arbeiten beschämend langsam. Die Gothic-Frau wirkt genervt:
„Hast du ein Identitätsproblem, oder was?“
Alex muss lachen. Er nickt:
„Ja, das kommt manchmal vor.“
Mühsam gewinnt er die Fassung zurück. Fieberhaft sucht Alex nach einer Erklärung für die bizarre Situation. Dann trifft ihn die Erleuchtung wie eine Axt. Alex versucht, sich die Gothic-Frau mit knallroten Haaren vorzustellen. Die Brille stimmte und die Größe kam auch in etwa hin.
„Verdammt, das ist die andere Frau! Die, mit der die vermutete Lena vor der Tür gestanden und gequatscht hat. Dann war die vermutete Lena sicher – wie hieß sie noch gleich? Richtig: Clara. Die Kollegin.“
Sofort fangen Alex’ Synapsen an, sich neu zu verschalten:
„Natürlich bin ich Björn. Willst du dich nicht endlich mal setzen, Lena? Du machst mich ganz nervös.“
Sie tut es, bleibt aber misstrauisch:
„Irgendwie siehst du nicht aus, als ob dein Traum gerade in Erfüllung gegangen wäre“, stellt Lena trocken fest. Alex reißt sich zusammen:
„So ein Quatsch!“
Als die echte Kellnerin vorbei kommt, bestellen sie eine Runde Bier. Lena mustert ihn:
„Ehrlich gesagt, habe ich mir dich auch anders vorgestellt.“
„Inwiefern?“
„Jünger, irgendwie.“
Die Bemerkung kränkt Alex. Dann fällt ihm ein, dass Lena ihn für 39 hält. Vielleicht hatte er damit etwas zu tief gestapelt. Lena grinst:
„Jetzt guck nicht so. Wie war deine Fahrt? Gut durchgekommen?“
„Ja. Lief.“
„Du warst pünktlich – was? Sorry, ich komme immer zu spät. Das ist mein Schicksal.“
Die Kellnerin stellt die Biergläser auf den Tisch. Lena nimmt einen beherzten Schluck:
„Na dann … auf unser erstes Date! Ist komisch, hier mit dir zu sitzen. Dachte, das wäre entspannter, weil wir uns ja schon so gut kennen.“
Alex nickt:
„Geht mir genauso.“

Er muss schnell einen Plan B aus der Hüfte schießen. Lena ist zwar nicht die Frau, auf die er gehofft hatte, womöglich war sie aber der Schlüssel zu ihr.
„Nett hier. Ist das die Kneipe, in der du neulich mit Clara warst?“
„Was? … Auch so, nein. … Wie witzig, dass du dir das gemerkt hast.“
Lena tilgt ihr Bier erstaunlich schnell. Alex‘ Gehirn arbeitet:
„Das hat einen Grund. Ich habe nämlich einen tollen Freund, der verzweifelt nach seiner Herzdame sucht. Und als du von Clara erzählt hast, dachte ich, vielleicht sollten wir dem Zufall etwas nachhelfen. Hattest du nicht gesagt, Clara sei auch Single?“
„Stimmt. Und wie genau hast du dir das vorgestellt mit dem Zufall?“
„Weiß nicht. Wir könnten ein Blind Date für die beiden organisieren? Wäre doch lustig.“
Lena überlegt kurz:
„Ich schätze, da würde Clara nicht mitspielen. Damit ist sie schon ein paar Mal richtig reingefallen.“
„Schade.“
„Warte … Chattet dein Freund? Clara ist nämlich auch in unserem Chat. Dein Freund könnte sie dort ganz zufällig finden und kontaktieren.“
„Geniale Idee! Das kriege ich irgendwie hin. Was ist ihr Pseudonym?“
„Leeloo.“
„Wie das fünfte Element?“
„Richtig! Clara steht total auf diesen Film. Ich musste ihn mir gefühlte hundert Mal ansehen. Sie sieht sogar ein bisschen aus wie Leeloo.“
„Das stimmt …“, schmunzelt Alex zufrieden in sich hinein.

Nach dem zweiten Bier verabschiedet sich Alex und täuscht eine lange Heimreise vor. Zurück nach Darmstadt lässt er der Harley freien Lauf. Seine Gedanken eilen ihm noch schneller voraus. Noch heute will er ein neues Profil im Chat anlegen. Erst zuhause findet Alex die SMS von Ina auf seinem Handy:

✉ Papa ist eben gestorben.

Die SMS ist eine Stunde alt. Tatsächlich hatte er den ganzen Abend nicht mehr an die Sache gedacht.

Alex lässt sich auf den Schreibtisch-Stuhl fallen und starrt den dunklen Monitor an. Irgendwann schaltet er den Rechner ein. Als #Korben (alias Jochen) legt er ein weiteres Konto im Chat an. Zu dumm, dass er noch ein bis zwei Tage warten muss, bis er #Leeloo kontaktieren kann. Schneller würde Björn es sicher nicht schaffen, seinem tollen Freund von Clara zu erzählen. Auch mit #Luna13 chattet Alex weiter. So kann er Lena aushorchen, wie #Korben bei #Leeloo ankommt.

Am nächsten Morgen fühlt sich Alex gerädert. Er hat in der Nacht keine Ruhe gefunden. Immer wieder war Inas SMS über seine Augenlider getickert. Auf dem Weg zur Schule würde er sie anrufen und eine wilde Geschichte erfinden.

Alex duscht kalt. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine zieht er eine nasse Spur hinter sich her. Während der Kaffee durchläuft, steckt Alex zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster und bestreicht sie anschließend mit Butter und Konfitüre. Eine der beiden Scheiben legt er auf einen Teller, den er zusammen mit einer Tasse Kaffee auf ein Tablett stellt. An der Kühlschranktür leuchtet noch immer der rote Abholschein einer Reinigung. Den hat er vor gut zwei Wochen dort hingehängt. Er nimmt ihn ab und schiebt ihn unter die Kaffeetasse. Dann trägt er das Tablett ins Schlafzimmer.

Inzwischen ist es halb acht. Conny schläft noch. Wie immer auf dem Bauch, was nicht gut für ihren Nacken ist. Ihre Locken haben die üblichen kleinen Nester gebaut. Ganz sicher würde Alex auch an diesem Nachmittag ihre ausgekämmten Haare aus dem Waschbecken fischen müssen. Mit Klopapier, weil ihn Haare im Waschbecken ekeln. Er bekommt Herpes davon, worauf Conny keine Rücksicht nimmt.

Durch den Vorhang ihrer wirren Haarsträhnen sieht Alex, wie Connys Lider zucken.
„Welche schlechte Nachricht wohl über ihren inneren Bildschirm flimmerte? Ob sie noch von mir träumt nach fast dreißig Jahre? …“
Eine unvorstellbar lange Zeit. Sie waren einfach so ins Land gezogen, die Jahre, ohne einschneidende Markierungen in ihrem Leben zu hinterlassen. Die größte Veränderung würde wohl ihr Umzug nach Darmstadt bleiben, wo Alex auf Lebzeiten verbeamtet ist und Conny in der städtischen Klinik arbeitet.

Vorsichtig stellt Alex das Tablett auf seiner Seite des Ehebetts ab, die seit Monaten unbenutzt ist.
„Was ist nur aus uns geworden, Conny? Ein spießiges altes Paar, das in getrennten Zimmern schläft.“

Es ist schon eine Weile her, dass Conny zum letzten Mal vom Heiraten und einem eigenen Haus gesprochen hatte – mit Hund und Garten und so. Alex weiß nicht, ob ihn das beruhigen oder beunruhigen sollte.
„Wie konnte diese wunderbare Frau, der Autonomie immer so wichtig war, derart klischierende Vorstellungen vom Zusammenleben entwickeln? Wann fing das an? Wo haben wir als Paar die Kreuzung verpasst? …“, hatte sich Alex gefragt. Doch angeblich war das normal in Connys Alter. Alex‘ Kollegen berichteten Ähnliches von zuhause.
„Der Nestbautrieb. Da hat die Natur ein Gen in die Frauen eingepflanzt, das mit der heutigen Evolutionsstufe nicht mehr vereinbar ist.“

Alex wollte nie heiraten:
„Wozu denn? Es ging uns doch immer gut so wie es war.“
Er will auch kein Haus mit Hund und Garten und so:
„Mein Vater besitzt … besaß genügend Häuser, die ich irgendwann mal erben werde. So, wie es aussieht, schon sehr bald. Warum sich also mit noch mehr Eigentum belasten? …“
Alex störte mehr, dass sein Genpool brach lag. Mit Heiraten, Haus und Hund hatte Conny auch Küssen, Kuscheln und Kinder ad acta gelegt. Sie schliefen und aßen nur noch getrennt voneinander. Sex hatten sie schon lange keinen mehr. Wahrscheinlich steckte Conny bereits in den Wechseljahren. Das würde zumindest ihre Lustlosigkeit erklären. Für Conny war es nun zu spät. Für ihn nicht. Deshalb behielt Alex sich vor, die Beziehung grundsätzlich in Frage zu stellen und sich draußen ein wenig umzusehen.

Seit Neuestem kapselte Conny sich immer weiter ein. Ständig nörgelte sie an allem herum. Dafür besuchte sie ihre Eltern wieder häufiger. Das verunsicherte Alex am allermeisten. Es war nicht schlecht, sein Leben mit Conny. Es verlief in geordneten Bahnen. Doch bei dem Gedanken, dass es so bleiben könnte, ergriff ihn regelmäßig die Panik. Vor allem nachts, wenn er nicht schlafen konnte.

Alex streicht Conny die Haare aus der Stirn. Vor kurzem hatte er ein paar graue im Waschbecken entdeckt. Er war ihr schon lange nicht mehr nahe genug gekommen, um sie auf ihrem Kopf zu sehen. Aber hier, im Licht der Juni-Sonne, glitzern sie wie feine Silberdrähte. Gern würde er sich noch einen Moment zu ihr legen und von seinem Vater berichten. Aber dann käme er zu spät zur Schule, und sicher würde Conny es auch nicht verstehen.

Alex holt ein frisches T-Shirt aus dem Schrank und schleicht aus dem Schlafzimmer. Fünfzehn Minuten später zieht er die Wohnungstür leise hinter sich ins Schloss.

Epilog

Wenige Wochen nach der Beerdigung wird Alex überrascht feststellen, dass Conny ihn verlassen hat. Als er von einem Biker-Trip zurückkehrt, sind sie und ihre Sachen aus der Wohnung verschwunden. Der Rest sieht aus, als würde sie gleich hereinkommen.

Conny wird auf keine seiner Nachrichten reagieren. Alex versteht das nicht und lauert ihr deshalb manchmal vor der Klinik auf. Doch er spricht sie nie an. Das lässt sein Stolz nicht zu. Er verfolgt sie bis zu ihrer neuen Wohnung in der Alicenstraße. Mit Stalking hat das seines Erachtens nichts zu tun. Schließlich ist Conny #seine-Frau.

Aus der nahen Grünanlage heraus beobachtet er aufmerksam, wer in Connys Haus ein- und ausgeht – ob jemand dabei ist, mit dem er sich die ganze Sache erklären könnte. Doch er wird niemanden entdecken, der ihm verdächtig erscheint. Bis ihm in seinem Viertel ein junger Typ auffällt, der seine alte JOOP!-Lederjacke trägt. Den schnappt er sich.

Zwei Monate nach diesem Vorfall wird Alex sich im Unterricht an die Brust fassen und umfallen. Die Schüler alarmieren den Lehrer im Klassenzimmer nebenan, der informiert den Direktor, der schließlich einen Notruf absetzt. Weil Alex‘ Herz normal zu ticken scheint und die Ärzte in der Darmstädter Klinik auch sonst nichts Organisches finden, wollen sie einen Psychiater hinzuziehen. Doch Alex lehnt ab. Am Ende würden sie ihm noch Conny schicken! Dabei ist Conny die einzige Ärztin, der Alex vertraut.

Am Morgen nach seiner Entlassung werden Alex‘ Beine versagen. Sie gestatten es ihm nicht, vom Schreibtisch aufzustehen, wo er gegen halb vier nachts sitzend eingeschlafen ist. Dieses Mal ruft er selbst den Krankenwagen. Mühsam rollt sich Alex im Bürostuhl vom Arbeits- ins Schlafzimmer und von dort weiter ins Bad. Unterwegs sammelt er ein paar Sachen ein und stopft sie in seine Sporttasche. Dann hangelt er sich weiter bis zur Wohnungstür vor und wartet, bis ihn die Sanitäter aus dem Bürostuhl befreien.

Alex besteht darauf, nicht wieder in die Darmstädter Kliniken gebracht zu werden. So landet er im Elisabethenstift, wo man einen Burnout diagnostiziert. Als er die Klinik drei Monate später wieder verlässt, ist Conny wie vom Erdboden verschluckt.

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