Knoten 8: Wut

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Theresa-29-Social-Engineer

Berlin, 27. März 2017

Theresa öffnet die E-Mail von Petra Winkler und stöhnt:
„Oh bitte, keine Mutter-Tochter-Geschichten! …“
Als ihr kleines Business startete, hatte sie sich mit diesen emotionalen Sachen über Wasser gehalten: verloren gegangene Kinder oder Eltern. Meistens waren solchen Sachen große Dramen vorausgegangen, deshalb spielten Kosten für die Auftraggeber keine Rolle. Inzwischen lehnte sie die Aufarbeitung solcher Familiendramen ab. Sie fühlte sich nicht mehr zuständig für den Seelen-Ballast anderer Leute.

Theresa arbeitete lieber für Rechtsanwälte. Dann hatte sie mit den Betroffenen nichts zu tun. Zwar kam auch dieser Auftrag von einer Rechtsanwältin, nur vertrat die gerade ihren eigenen Fall. Schwierig. Normalerweise müsste sie nein sagen, doch wenn sie ihre Sache gut machte, konnten sich daraus Folgeaufträge ergeben. Außerdem kam der Auftrag über Arndt Huber zu ihr. Und Arndt Huber spielte ihr viele Aufträge zu. Gute Sachen. Es wäre nicht klug, jetzt zu kneifen. Theresa zieht eine Schnute.

Bei Arndt ging es meistens um Erbschaftsangelegenheiten: vermisste oder entfernte Verwandte, die in Testamenten oder in einem Seitenarm der natürlichen Erbfolge auftauchten. Auf Stammbäume war Theresa inzwischen spezialisiert. In letzter Zeit hatte sie vermehrt Vaterschaftsklagen in gehobenen Kreisen auf dem Tisch. Auch ein lukratives Geschäft. Da konnte sie einen hohen Tagessatz verlangen. Säumige Erzeuger hatten sich als relativ leicht lokalisierbar erwiesen. Doch Petra Winkler, die Absenderin der E-Mail, war über fünfzig und suchte nach einer Frau, die mindestens siebzig sein musste. Schwer zu sagen auf Basis eines solch alten Fotos. Menschen jenseits der Siebzig waren im Web schwer zu finden.

Theresa öffnet die angehängte Bilddatei in Photoshop und zoomt das Gesicht der Frau heran. Mit geübten Fingern verändert sie Zahlen und Kurven, verschiebt Regler und setzt Häkchen, um aus dem Bild alles herauszuholen:
„Mal sehen, was das Netz damit anfangen kann. Zur Not muss mir Frau Winkler das Original schicken. Sicher wird sie sich nicht davon trennen wollen. Damit fängt der Ärger dann schon an.“
Aufmerksam betrachtet Theresa das Frauengesicht am Monitor:
„Du bist aber eine sehr junge Mama. Und was ist mit dem Papa? …“
Mit wenigen Klicks findet sie die Todesanzeige von Ulrich Winkler im Netz:
„Jahrgang 1939. Der war Mitte zwanzig als seine Tochter zur Welt kam. Da kann man nicht mehr von jugendlichem Fehltritt reden. Der sollte gewusst haben, was er tut. … Ach guck, noch ein Anwalt …“
Theresa lacht: „Na, der sollte es erstrecht gewusst haben …“

Es würde an ein Wunder grenzen, Judith Gerieder in einem der sozialen Netzwerke aufzustöbern. Selbst wenn die Frau auf einer der vielen Plattformen aktiv war, gab es sicher nur neuere, digitale Fotos von ihr.
„Da kommt meine KI-Software nicht weit. Hier werde ich meine Jungs einschalten müssen. Was für eine Verschwendung – nur, um ein altes Sehnsuchtsloch zu stopfen. Warum können die Leute das Vergangene nicht ruhen lassen? Es scheint ihr doch ganz gut zu gehen, der Frau Rechtsanwältin. Was will sie denn noch? …“

Theresa ist keine studierte Hackerin. Für die ganz harten Fälle hat sie aber auch so jemanden an der Hand. Ihre #Jungs sind Informanten bei Firmen, Institutionen und Behörden. Überall kennt Theresa jemanden, der fast alles für sie tun würde. In dieses Netzwerk hat sie einige Jahre ihres Lebens investiert. Als #Susanna-May kam sie meistens schnell ans Ziel. Die Kunstfigur ist ihre eigene Schöpfung. Das Foto hat sie der Website eines Escort-Dienstes entnommen. Es öffnete ihr viele Türen. Theresa veredelte es mit ihrem klugem Kopf und ihrer sanften Stimme.
„Man muss lernen, das zu nutzen, was man hat, statt zu beklagen, was man nicht mehr hat …“, lautet Theresas Devise. Deshalb kann sie Petra Winkler nicht verstehen.

Auch ihre Jungs spürt Theresa im Internet auf: bei XING oder LinkedIn, wo sie nach interessanten Arbeitgebern mit guten Datenbanken suchen kann. Inzwischen hat sie ein Gespür dafür entwickelt, welche Männer Susanna May ins Netz gehen. Sie sieht es schon am Bild und hörte es an der Stimme. Natürlich wollten alle nur das Gleiche: mit ihr ins Bett. Das findet Theresa lustig. Immerhin wussten ihre Jungs, wofür Susanna May die Informationen brauchte. Es beruhigte ihr Gewissen, anderen zu einer hübschen Erbschaft zu verhelfen:
„Wäre ja nett, wenn einem selbst mal sowas passieren würde.“

***

Angefangen hatte das Ganze vor fünf Jahren – nachdem sich Theresas Master-Thesis buchstäblich in Luft aufgelöst hatte. Wenige Meter vor dem Copy-Shop war alles umsonst gewesen. Wenn sie daran dachte, packte sie heute noch eine Wut, die ihr den Hals zudrückte. Doch mit den Jahren hatte sie gelernt, ihr Schicksal zu akzeptieren.

Ein schmerzhaftes Jahr lang hatte Theresa hart an sich gearbeitet, um dort anzukommen, wo sie heute war. Noch härter war das zweite Jahr gewesen, als sie sich mit der Tatsache hatte abfinden müssen, dass sie weiter nicht kommen würde. Nie mehr würde ihr Leben sein wie vorher.
„Wegen eines fahrlässigen Grobmotorikers. Es ist mir immer noch schleierhaft, wie der Mistkerl einfach spurlos verschwinden konnte …“
Kaum einer hatte wirklich Notiz von ihm genommen, und sie selbst erinnerte sich nur vage an einzelne Menschen, die damals so zahlreich um sie herum gesprungen waren.

Was hatte Theresa nicht alles unternommen, um den Kerl aufzuspüren: Zeitungsinserate, Gespräche mit Polizei und Zeugen. Sogar bei der Notruf-Zentrale hatte sie es versucht. Aber die wussten auch nicht mehr. Am Ende hielt Theresa nur eine Phantom-Skizze in der Hand, die nach mutmaßlichen Zeugenaussagen angefertigt worden war: ein Mann mit seltsamen Augen und Akne im Gesicht. Das Bild wirkte surreal, und niemand hatte mit Gewissheit sagen können, ob das Phantom den Unfall verursacht oder nur beobachtet und gemeldet hatte. An diese Skizze heranzukommen, war der erste Meilenstein auf Theresas Weg in eine neue Existenz gewesen.

***

Theresa speichert das bearbeitete Bild in den Ordner, den sie für den Winkler-Fall angelegt hat.
„Jetzt jage ich das Bild mal durch TensorFlow und dann werden wir sehen, was das neuronale Netz zu der kleinen Judith ausspuckt.“
Als sie das Programm aufrufen will, klingelt es an ihrer Haustür.
Sicher wieder die Post mit Paketen für meine Nachbarn. Das ist der Nachteil, wenn man zuhause arbeitet …“, denkt Theresa verärgert. Doch die Nachbarn zeigten sich erkenntlich, indem sie ihr Getränke mitbrachten oder Schnee für sie schippten. Noch nie hatte sie jemanden darum bitten müssen. Das Hinterhaus sorgte gut für sie.

Theresa sichert den Bildschirm. Das hat sie sich längst zur Gewohnheit gemacht in ihrem heiklen Job. Es klingelt wieder. Bis sie an der Tür ist, hat es zum dritten Mal geklingelt.
„Immer mit der Ruhe, ihr wisst doch inzwischen, wie lange ich von Null auf Hundert brauche!“
Theresa wohnt im Erdgeschoss eines Hinterhauses. Ihre Wohnungstür ist gleichzeitig eine Haustür. Alle anderen Hausbewohner nutzen den alten Eingang mit der ausgetretenen Steintreppe. Theresa besitzt eine Rampe. Die gesamte Wohnung ist behindertengerecht ausgestattet. Ein Glücksfall für Theresa und den Vormieter, der die Wohnung in ihren Original-Zustand hätte zurückbauen müssen.

Theresa öffnet erst das Stabschloss in der Mitte der Tür, dann das Sicherheitsschloss, dessen Schlüssel von innen steckt, wenn sie zuhause ist. Ihre nächste Investition wird eine Überwachungskamera mit Gegensprech-Anlage sein. Die hatte der Vormieter vergessen. Draußen auf der Rampe steht ein zweiter Rollstuhl. Die alte Dame, die darin sitzt, ist ebenso verdutzt wie sie. Dann lächelt sie erschöpft. Die wattierte Winterjacke ist viel zu warm für das sommerliche Wetter. Theresa hatte in ihrer kühlen Höhle kaum bemerkt, dass der Frühling eingekehrt ist. Jetzt schlägt ihr die Hitze entgegen.

Der bärtige Typ hinter der alten Frau kramt in seiner Brusttasche. In der Einfahrt parkt ein schwarzer Minivan:

KRANKENTRANSPORTE – ALLE KASSEN.

Theresa sieht den Hipster fragend an, der einen gelben Durchschlag-Zettel in der Hand hält und ihr einen Kugelschreiber dazu reichen will:
„Hi! Kannst du hier mal quittieren, dass du Frau …“
Er stutzt und zieht beim Lesen die Stirn in Falten:
Au-der-zan oder so – in Empfang genommen hast?“
Theresa lacht:
„Was? Ich denke gar nicht dran.“
Der Mann ist irritiert. Er deutet auf den gelben Zettel:
„Ist das hier etwa nicht die richtige Adresse?“
Theresa beugt sich vor und liest. Sie nickt verstört:
„Doch, schon. Aber vielleicht musst du an der anderen Tür klingeln.“
Sie deutet mit dem Finger um die Hausecke. Der Mann, der kaum jünger ist als Theresa, achtet gar nicht darauf, sondern wendet sich an die alte Frau:
„Wohnen Sie hier, Frau Auderzan?“
Er spricht deutlich und laut mit ihr. Die Alte lächelt beseelt und nickt. Damit scheint die Sache für ihn geritzt.
„Na also.“

Verständnislos schüttelt Theresa den Kopf:
„Was heißt hier: na also? Ich kenne die Frau nicht. Und sie wohnt auch nicht bei mir. Ich habe sie hier im Haus noch nie gesehen.“
Unruhig kratzt sich der Hipster mit dem Stift hinter dem Haarknoten. Er blickt sich im Hof um:
„Und jetzt?“
Theresa zuckt mit den Achseln:
„Weiß ich doch nicht. Da ist offensichtlich etwas schief gelaufen.“
Der alten Frau läuft der Schweiß am Hals entlang in den Jackenkragen. Sie tut Theresa leid. Der Hipster zupft verlegen an seinem Bart:
„Verdammt! Es ist so: Ich muss ganz schnell einen Dialyse-Patienten abholen. Der Mann muss dringend an die Maschine.“
„Dann sag einem Kollegen Bescheid“, schlägt Theresa vor.
„Geht nicht. Ich bin allein und hab nur diesen einen Wagen. Ich kann damit nicht zwei Rollstühle gleichzeitig transportieren.“
„Kannst du nicht einen anderen Krankentransporter beauftragen?“
„Nein, das dauert zu lange.“
„Klingt nach einem Problem. Gut, dass es nicht meins ist.“

Theresa rollt zurück und will die Tür wieder schließen, doch der Mann stemmt sich mit dem Arm dagegen:
„Warte kurz! Könntest du mir nicht helfen? Sobald ich den Mann zur Dialyse gefahren habe, rufe ich in der Klinik an und kläre das. O.k.?“
„O.k. Und wo komme ich da ins Spiel?“
Der Hipster deutet mit dem Finger von oben auf den Kopf der alten Frau und flüstert hinter vorgehaltener Hand:
„Ich müsste sie mal kurz bei dir parken.“
Theresa ist außer sich:
„Was? Dir haben sie wohl ins Gehirn uriniert?“
Die Alte zuckt zusammen und sieht Theresa böse an. Deshalb flüstert Theresa zurück:
„Du kannst die Frau nicht einfach hier abstellen!“
Der Mann schielt an Theresa vorbei in den Flur:
„Das ginge schon. Sind doch ideale Bedingungen. Scheint alles barrierefrei zu sein. Und wer könnte sie besser betreuen als jemand, der die Situation eines Rollstuhlfahrers so gut kennt wie du?“
„Was für ein mieser Verkäufer …“, denkt Theresa sprachlos. Ihr Schweigen ermutigt ihn fortzufahren:
„Ist doch nur für ein Stündchen. Der arme Dialyse-Patient kann ja auch nichts dafür. Ist echt schmerzhaft, nicht an die Dialyse zu kommen. Das kannst du mir glauben. Wir sind hier alle Opfer eines groben Fehlers geworden. Da müssen wir uns doch gegenseitig unterstützen.“

Sein alberner Dackelblick läuft bei Theresa ins Leere. Sie ist wütend:
„Du tickst doch nicht ganz richtig! Wie soll ich mich denn um die Frau kümmern, wenn ich selbst im Rollstuhl sitze? Hat sie eine Windel an?“
Der Hipster nimmt das als halbe Einwilligung:
„Ja, keine Sorge. Alles frisch. Haben die in der Klinik gesagt.“
Seine Dreistigkeit überrumpelt Theresa:
„Vielleicht will die Frau ja gar nicht hier bei mir bleiben.“
Der junge Mann beugt sich über die alte Dame und strahlt sie an:
„Wollen Sie kurz hier bleiben, Frau Auderzan? Nur für eine Stunde? Dann hole ich Sie wieder ab und fahre Sie nachhause.“
Frau Auderzan nickt gutmütig:
„Wieso? Ich bin doch hier zuhause.“
„Na, umso besser.“
Der Hipster zwinkert Theresa verschwörerisch zu. Sie fühlt sich hilflos und haut mit der Faust auf die Lehne ihres Rollstuhls, worauf die schwitzende Frau im Rollstuhl erneut zusammenzuckt. Das tut ihr leid. Sie überlegt fieberhaft:
„Die Frau muss aus der Sonne. … „
„Also gut, Mann. Eine Stunde. Und wehe, du bist nicht pünktlich zurück. Dann melde ich es und du bist deine Lizenz los. Das schwöre ich. Wäre vielleicht auch besser für alle. Ich könnte schließlich eine Psychopathin sein, die wehrlose alte Leute umbringt.“
Die alte Frau erstarrt und wird bleich, doch der Hipster lacht:
„Ach was! So siehst du nun wirklich nicht aus.“
Er schiebt die Alte an Theresa vorbei ins Wohnzimmer:
„Danke, danke, danke! Ich revanchiere mich gern mit einer kostenlosen Fahrt. Hier ist meine Handynummer.“
Er notiert sie auf dem Durchschlag-Zettel und legt ihn der alten Frau in den Schoß. Theresa wehrt ab:
„Nein, danke. Wer weiß, wo ich dann lande.“
Doch der Mann ist schon an ihr vorbei gestürzt.
„Eine Stunde! Maximal!“, ruft Theresa ihm nach. Schnell prägt sie sich das Nummernschild des Minivans ein. In so etwas ist sie gut. Als das Auto vom Hof rollt, fügt Theresa ein leises „Idiot!“ hinzu. Die Alte kann es in der Wohnung nicht hören.

Sorgfältig schließt Theresa die Tür ab und rollt in ihr Wohnzimmer, das eher einem Arbeitszimmer gleicht. Die Frau wirkt immer noch verstört. Argwöhnisch blickt sie sich um:
„Wo sind denn meine ganzen Möbel hin?“
Theresa weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Sie hat zu wenig Erfahrung mit dementen Leuten. Die Augen der Alten folgen ihr misstrauisch, als sie zu ihrem Schreibtisch rollt, der einen erheblichen Teil des Zimmers einnimmt.
„Was sind denn das für komische Dinger da?“, fragt sie feindselig.
„Welche Dinger meinen Sie?“
„Diese großen schwarzen Dinger da auf meinem Esstisch.“
„Das sind Monitore. … Also Bildschirme. Und das ist nicht IHR Esstisch, sondern MEIN Schreibtisch.“
„Aber, da stand immer mein Esstisch mit den passenden Stühlen! Alles aus echtem Teakholz.“
Ihr Blick wandert weiter zu Theresas Whiteboard mit den Post-its:
„Und da hing ein Mondrian. Ein Echter! Wo ist der hin?“
Panisch wendet sie sich nach links, wo Theresas Sportgeräte an der Wand lehnen.
„Ich verstehe das nicht! Da hinten war die braune Couch-Garnitur. Und hier eine Schrankwand. Auch Teak. Was haben Sie mit all den Sachen gemacht? Wo haben Sie sie hingebracht?“

Nun wird es Theresa zu bunt:
„Hören Sie, Frau Auderzan, …“
„Warum nennen Sie mich immer so komisch?“
Weil das so auf Ihrem Zettel steht. Also heißen Sie wohl so.“
„Nein.“
„Nein?“
„Nein!“
„Wie heißen Sie denn?“
Die Frau überlegt etwas zu lange:
„Es fällt mir gerade nicht ein. Aber nicht so.“
„Naja, jedenfalls habe ich keine Antwort auf Ihre Fragen. Ich fürchte, es gibt auch keine. Sie sind nur sehr verwirrt. Kein Wunder bei dem Chaos, das die mit Ihnen veranstalten.“
„Und was ist mit meinem Schlafzimmer? Und mit der Küche? Ich habe eine nagelneue Küche von meinem Sohn bekommen – ganz in Rot!“
Theresa stutzt. Die neuwertige Einbauküche hatte sie dem Vormieter abkaufen müssen, als sie vor einem halben Jahr hier eingezogen war. Alles war über einen Makler gelaufen. Andernfalls hätte sie sich niemals für eine rote Küche entschieden. Sie schüttelt den Kopf und rollt auf die alte Frau zu, die sie ängstlich anblickt.
„Keine Sorge, ich tu Ihnen nichts. Ich passe nur ein bisschen auf Sie auf, bis der Idiot wieder zurück ist und Sie nachhause fährt. Wollen Sie solange die Jacke ausziehen hier drin? Sie sind ja ganz verschwitzt.“
Die Alte zieht die Jacke fester über der Brust zusammen:
„Aber wenn ich es Ihnen doch sage: Ich bin hier zuhause.“
„Ja, ja, schon gut. Ich weiß.“
Theresa greift nach dem Durchschlag-Zettel auf Frau Auderzans Schoß  und studiert ihn eingehend. Mit krakeliger Schrift hatte jemand ihre Adresse als Zielort notiert – mit einem Vermerk: Hinterhaus, EG, eigener Eingang. Das war zu präzise, als dass sich jemand in der Hausnummer hätte geirrt haben können. Darüber stand – schwer zu lesen – der Name der zu befördernden Person. Von so einer Kleinigkeit lässt sich Theresa nicht entmutigen:
„Mal sehen, was wir über Sie herausfinden, Frau Auderzan.“
Der Blick der alten Frau verfinstert sich. Sie schnappt nach dem Zettel in Theresas Hand und klammert sich mit ihren Fingern daran fest:
„Ich will, dass Sie bei Bertram anrufen.“
„Wo soll ich anrufen?“
Die Alte gibt den Zettel wieder frei und schweigt. Theresa wendet ihren Rollstuhl und fährt zum Schreibtisch zurück. Blöderweise hat sie sich nur das Kennzeichen des Minivans gemerkt. An den Firmen-Aufdruck erinnert sie sich nicht.

Sie ruft ihren Kontaktmann bei der KfZ-Zulassung an. Als Volker Uhlen abnimmt, gurrt Theresa in ihr Handy:

☎ „Hallo Volker, Susanna hier. Gut, dass ich dich erreiche. Wie geht es dir, mein Lieber?“

☎ „Ah, Susanna … jetzt, wo ich deine Stimme höre, geht es mir gleich besser. Ich bin nämlich furchtbar erkältet. Husten, Schnupfen, … Gestern habe ich kaum einen Ton hervor gebracht, und mein Kopf hat sich auch ganz heiß angefühlt.“

☎ „Oh wirklich? Du Ärmster! Das tut mir leid. So ein Schnupfen kann ziemlich eklig sein. – Sag, würdest du mir einen Gefallen tun? Ich habe das Auto-Kennzeichen eines Minivans und wüsste gern, welcher Firma der gehört. Jemand hat beim Ausparken meine Stoßstange gerammt. War ein bisschen eng dort. Hatte mir sicherheitshalber das Nummernschild notiert.“

☎ „Wie ärgerlich. Aber gut, dass du das Kennzeichen hast. Geh doch am besten gleich zur Polizei und erstatte Anzeige.“

☎ „Hmmm, um ehrlich zu sein, wollte ich nicht gleich die Polizei bemühen. Ich hatte leider im absoluten Halteverbot geparkt, weil ich nur schnell was beim Notar abholen musste. Ich will erst mal nachforschen, ob der Wagen es überhaupt war, bevor ich die Pferde scheu mache.“

☎ „Haha, so, so, … Na gut, weil du es bist. Ich sehe nach.“

☎ „Du bist so ein Schatz, Volker!“

Sie gibt das Kennzeichen durch und notiert wenig später einen Namen auf ihrem Post-it-Block.

☎ „Ich danke dir. Damit hast du mir wirklich sehr geholfen.“

☎ „Gern geschehen. Ich hoffe, du bekommst den Schaden ersetzt. Ist schon verdammt ärgerlich, wie die Leute sich verhalten. Wozu gibt es denn die Haftpflicht? … Wie geht es dir sonst so, Susanna? Ich habe lange nichts von dir gehört.“

☎ „Mir geht es prima. Ich genieße die Sonne. Da kann man endlich mal wieder nackte Beine zeigen.“

☎ „Schöne Vorstellung. Vielleicht kannst du sie mir bei Gelegenheit auch mal zeigen. Hahaha. Ich würde dich sehr gern auf ein Eis oder einen Kaffee einladen.“

☎ „Wie lieb. Vielleicht bietet sich bald mal eine Gelegenheit. Aber erst musst du wieder gesund werden. Also dann, bis bald, mein Lieber. Pfleg dich schön.“

Dass Volker sie nicht gleich zum Abendessen einladen wollte, sprach dafür, dass er in einer Beziehung lebte. Das waren ihre besten #Jungs.

Theresa schnalzt mit der Zunge und googelt die Telefonnummer der Klinik, die den Krankentransporter beauftragt hatte. Sie wählt die Nummer und landet an der Rezeption:

☎ „Hallo? – Hier spricht Frau Delkert vom Krankentransport Delkert. Sie haben meinen Mann beauftragt, eine Patientin bei Ihnen abzuholen. Leider ist der Name sehr unleserlich. Irgendwas mit Auder… vorne. Auderzan oder so.“

☎ „Wann war das?“

☎ „Vor einer Dreiviertel-Stunde etwa. Mein Mann hat die Frau zu der angegebenen Adresse gefahren. Aber da gibt es kein Klingelschild, das auch nur ansatzweise einem solchen Namen ähneln würde. Die alte Frau ist wohl dement und ein bisschen hysterisch. Sie kann ihm auch nicht weiterhelfen. Er versucht gerade, die Frau zu beruhigen. Deshalb hat er mir ein Foto des Transportbelegs geschickt und mich gebeten, bei Ihnen anzurufen. Könnten Sie bitte mal nachsehen, wie der Name richtig geschrieben wird?“

Die Alte lauscht dem Gespräch. Auch sie möchte erfahren, wie sie heißt. Doch so schnell will der Mann am anderen Ende das Geheimnis nicht lüften:

☎ „Da müsste ich Sie mit der Station verbinden. Die stellen alle Transport-Belege aus.“

☎ „Dann verbinden Sie mich halt mit der Station.“

☎ „Wo hat Ihr Mann sie denn abgeholt?“

☎ „Auf welcher Station mein Mann sie abgeholt hat?“

Theresa spricht laut und deutlich und blickt Frau Auderzan fragend an. Doch die reagiert nicht. Jetzt kann sie nur raten:

☎ „Neurologische, glaube ich.“

Sie hält die Luft an während sie weitergeleitet wird. Dann hört sie eine neue Stimme.

☎ „Hallo.“

☎ „Hallo, hier ist Delkert vom Krankentransport Delkert. Hat Ihr Kollege Ihnen gesagt, worum es geht?“

☎ „Ja, hat er. Aber ich darf am Telefon keine Auskünfte erteilen. Da müssen sie schon hierher kommen.“

☎ „Das habe ich mir fast gedacht. Aber das ist nun wirklich ein Notfall. Und es eilt. Es ist schließlich Ihr Verschulden, wenn Sie die Formulare nicht in Blockschrift ausfüllen. Sie wissen sicher, dass das gegen die Vorschriften ist – oder?“

„Forsch behauptet ist halb bewiesen …“, denkt Therese. Die Frau am anderen Ende schweigt verwirrt. Theresa nutzt die Chance:

☎ „Wissen Sie was? Ich diktiere Ihnen jetzt mal die Nummer des Transport-Belegs. Die könnte ich ja nicht haben, wenn Sie uns den Durchschlag nicht ausgehändigt hätten. Und dann sehen Sie einfach mal auf Ihrem Beleg nach dem Namen. Vielleicht können Sie Ihre Schrift ja noch entziffern.“

Theresa weiß, dass langes Bitten zu nichts führt.
„Man muss die Menschen erst verunsichern und ihnen dann klare Ansagen machen, um zu bekommen, was man will.“

☎ „Haben Sie was zum Schreiben da? Dann notieren Sie bitte: D736415538.“

Die alte Frau sieht sich immer noch im Zimmer um, während Theresa telefoniert. Dann grinst Theresa breit.

☎ „Ach, ANDERSON. Das hätte ich nie erraten. Können Sie die Adresse auf dem Beleg bitte noch einmal mit Ihrem System abgleichen? Nur zur Sichereit, falls es diesen Namen am Zielort auch nicht gibt.“

Sie gibt ihre Adresse durch und wartet. Es dauert bis die Frau sich wieder meldet:

☎ „Hören Sie? Die Adresse ist tatsächlich falsch. Im System steht eine andere als hier bei uns auf der Patientenakte.“

☎ „Aha, das erklärt natürlich einiges. Sie leben ja im puren Luxus: Doppelte Datenbestände! … Das kann sich heute kaum noch einer leisten.“

Die Frau auf der anderen Seite ist verunsichert, weil sie Theresas spöttischen Unterton nicht einordnen kann. Dann gibt sie Theresa die richtige Adresse durch.

☎ „Schreiben Sie das nächste Mal bitte deutlicher. Sie haben Glück, dass Sie an uns geraten sind. Das hätte auch ziemlich schiefgehen können. Einen schönen Tag noch.“

Damit beendet Theresa das Gespräch und legt ihr Handy zur Seite.
„Habe ich etwa gerade Werbung für den Hipster-Idioten gemacht?“, fragt sie ungläubig, mehr an sich selbst gerichtet, und schüttelt den Kopf. Dann wendet sie sich an die alte Frau:
„Sie haben wirklich mal hier gewohnt, Frau Anderson. Und zwar direkt vor mir. Die Station hatte noch Ihre alte Adresse in der Papierakte. Aber im System war schon die neue von Ihrem Pflegeheim hinterlegt. Jetzt wissen wir wenigstens, wo wir Sie nachher hinbringen können.“
Die alte Frau ist empört über diese Wendung:
„Ich will nirgendwo hingebracht werden. Ich will nur wissen, wo meine ganzen Möbel sind.“
„Das weiß ich nicht. Aber ins Pflegeheim konnten Sie sie sicher nicht mitnehmen. Sagten Sie nicht, Sie hätten einen Sohn? Der müsste doch wissen, wo Ihre Möbel sind.“
Der Gedanke scheint der alten Frau nicht zu behagen.
„Jetzt rufen Sie endlich bei Bertram an!“, erwidert sie barsch.
„O.k., o.k. Ich habe aber keine Telefonnummer von Bertram. Ist Bertram Ihr Sohn? Betram Anderson?“
Wieder sackt die Alte in sich zusammen und schweigt. Sie scheint zu überlegen. Dann purzelt plötzlich eine Zahlenfolge aus ihr heraus.
„Sieh mal an, Ihr Zahlen-Gedächtnis ist wohl auch nicht von schlechten Eltern. Würden Sie das bitte nochmal wiederholen, zum Mitschreiben?“
Die ersten vier Ziffern weisen auf eine Handynummer hin. Theresa greift erneut zu ihrem Smartphone, um die Nummer zu wählen.
„Das stelle ich dem Hipster alles in Rechnung“, grummelt sie vor sich hin und wählt.

☎ „Hallo, spreche ich mit Bertram?“

Die alte Frau zieht instinktiv den Kopf ein.

☎ „Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. – Es ist nur so: In meinem Wohnzimmer sitzt eine alte Dame, die Ihre Handynummer auswendig kennt. Der Krankentransporter hat sie hier kurz zwischengeparkt, weil die Klinik ihm die falsche Adresse aufgeschrieben hat. Sie muss …“

Theresa hält sofort das Handy vom Ohr weg. Am anderen Ende hört man eine Männerstimme laut fluchen. Sogar die alte Frau kann es hören. Sie nickt ängstlich. Das Brüllen scheint ihr vertraut zu sein.

☎ „Jetzt beruhigen Sie sich mal wieder. Es ist ja nichts passiert. In einer Stunde wird Ihre Mutter ganz unversehrt zurück im Pflegeheim sein. Natürlich können Sie sie auch selbst bei mir abholen, wenn Ihnen das lieber ist. Wie Sie wollen. Die Adresse kennen Sie ja. – Gut. Also bis gleich.“

Theresa starrt ihr Handy ungläubig an:
„Ist Ihr Sohn immer so ein Charme-Bolzen?“
Die Alte wirkt jetzt noch verstörter als zuvor. Das alles ist zu viel für ihren Kopf. Sie nestelt am Reißverschluss ihrer Jacke herum.
„Die Arme …“, denkt Theresa und rollt sich näher an sie heran.
Theresa greift nach der knochigen Hand der Alten, und legt sie auf die Lehne des Rollstuhls. Dann öffnet sie den Reißverschluss und hilft der Frau, die sich kaum noch wehrt, aus der Jacke.
„So ist es besser, nicht wahr?“
Die Alte nickt dankbar. Ihre Haut fühlt sich wie trockenes Papier an. Sie hat schöne Hände mit langen, schlanken Fingern, die viel jünger wirken als der Rest. Oft war es genau andersherum. Theresa streichelt über den Handrücken, aus dem die Adern blau hervortreten. Es scheint die Frau zu beruhigen.
„Sehen Sie, alles ist gut. Ich passe auf Sie auf.“
Die Hand wird etwas weicher.
„Wie lange haben Sie denn hier gewohnt, Frau Anderson? Sehr lange?“
„Fast mein ganzes Leben“, antwortet Frau Anderson traurig.

Aus dem Augenwinkel beobachtet Theresa die weißhaarige Frau.
„Wie alt sie wohl ist? …“
Irgendwo hat sie mal gelesen, dass Gehirn-Erkrankungen zu einer schnelleren Vergreisung führen können. Das Gesicht der Alten sieht wächsern aus und ihre schmalen Lippen wirken wie ein Strich darin. Etwas scheint sie tief im Inneren zu quälen.
„Ich muss mal.“
„Was?“
Der Satz platzt mitten in Theresas Gedanken.
„Ich muss mal“, wiederholt Frau Anderson gepeinigt.
„Ohje. Groß oder klein?“
„Klein.“
„Dann machen Sie doch einfach in die Windel. Es stört mich nicht.“
Aber die alte Dame scheint es zu stören. Theresa dreht sich um und rollt zur Tür.
„Rufen Sie einfach, wenn Sie fertig sind. Ich bin mal in der Küche.“

***

Wie gut sich Theresa an all das erinnern konnte: diese Wut und die Schamgefühle, die eine solche Hilflosigkeit mit sich brachte:
„Wenn du plötzlich die intimsten Dinge mit Wildfremden – schlimmer noch: mit deinen Angehörigen – teilen musst, weißt du oft nicht mehr, wo du selbst aufhörst und die anderen anfangen. Plötzlich stecken sie alle in dir drin: erst mit ihren Fingern, Schläuchen und Kanülen, dann mit ihren Strohhalmen und Löffeln – und dann auch noch mit ihren ganzen Ratschlägen und Ängsten. Ihre Augen kleben den ganzen Tag an dir. Sie nehmen dir das Recht auf Privatsphäre einfach weg.“

Wenn sie in den ersten Wochen nach dem Unfall darum gebeten hatte, mal einen Moment für sich sein zu können, war ihre Mutter mit den Worten „natürlich, Schatz“ stur im Zimmer geblieben, um sich in eine Zeitung zu versenken.
„Als ob es das Gleiche bedeuten würde, wie weg sein …“, hatte Theresa dann sprachlos gedacht.

Trotz allem konnte Theresa sich glücklich schätzen: Zwei Wirbel weiter unten wären auch noch Blase und Darm betroffen gewesen. Je weiter sie die Wirbelsäule nach oben wanderte, desto schlimmer wurde es. Am Ende hatte es NUR ihre Beine erwischt. Nach zwei Jahren hartem Training wussten ihre Arme nun, wie sie den Verlust etwas ausgleichen konnten. Seither war Theresa von niemandem mehr abhängig.

Dennoch tat sich Theresas Mutter schwer damit, ihre Tochter wieder sich selbst zu überlassen. Dabei hatte sie früher immer gesagt, sie sei nur deshalb Zahnärztin geworden, damit ihre Kinder die Zähne richtig zusammenbeißen können, wenn es weh tut. Mit ihrer Praxis hatte sie immer auf eigenen Beinen gestanden. Vielleicht brachte sie es deshalb nicht über sich, die kaputten Beine ihrer Tochter loszulassen.

Oft dachte Theresa, dass ihre Mutter noch stärker unter dem Phantom-Schmerz litt als sie selbst. Das fand sie unfair – von ihrer Mutter. Schließlich hatte die noch zwei gesunde Beine. Andererseits: Ohne die Hilfe ihrer Eltern hätte sie es nicht so schnell geschafft, wieder ein normales Leben zu führen. Dafür war sie sehr dankbar.

Ihr Vater hatte einen Makler beauftragt, eine geeignete Wohnung für Theresa zu finden. In Berlin, wie sie es sich gewünscht hatte. Hier gab es viele Angebote für Leute mit Handicap. Insgeheim hoffte Theresas Vater, seine Tochter würde es, wenn sich alles gelegt und eingespielt hatte, doch noch einmal mit einem Studium versuchen – einem, bei dem die Beine keine Rolle spielten. Doch Theresa hatte anderes im Sinn. Inzwischen verdiente sie auch ohne Uni-Abschluss genug Geld, um sich über Wasser zu halten. Sie schaffte es auch so. Allein.

Zurzeit machten ihre Eltern Urlaub – das erste Mal seit fünf Jahren. Theresas Handy klingelte nur noch alle zwei Tage. Sie hoffte, dass es anschließend so bleiben würde. Vielleicht konnte sie ihre Mutter sogar auf einen Anruf pro Woche konditionieren.

***

In der Küche befestigt Theresa das Tablett am Rollstuhl und stellt zwei Gläser mit Wasser darauf. Ein bisschen Flüssigkeit schwappt daneben und tropft auf ihre Trainingshose. Trainingsklamotten sind das Einzige, was sie aus ihrem früheren Leben noch brauchen kann. Sie trägt nichts anderes mehr.

Im Wohnzimmer rührt sich nichts. Leise klopft sie an den Türrahmen. Die alte Frau hebt den Kopf. Offenbar war sie kurz eingenickt. Theresa rollt an ihre Seite und reicht ihr ein Wasserglas:
„Sie müssen viel trinken. Das ist wichtig für Ihr Gehirn.“
Mit zittriger Hand tut die Frau, was Theresa sagt. Doch sie nippt nur wie ein Vögelchen am Glas. Dann stellt sie es zurück auf das Tablett.
„Das ist aber praktisch.“
Theresa nickt:
„Ja, es gibt viele praktische Helfer für Menschen wie uns.“

Die Frau sieht sie etwas frischer und zutraulicher an. Das kurze Nickerchen hat ihr gut getan. Sie will jetzt reden:
„Sitzen Sie schon immer im Rollstuhl, Sie armes Ding?“
Theresa schüttelt den Kopf:
„Erst seit fünf Jahren. Davor hatte ich super Beine.“
Die Alte verzieht das Gesicht:
„Ich auch. Ich bin mit meinen die Treppe runter gefallen.“
Theresa lacht:
„Echt jetzt? Ich auch.“
Die Alte bemerkt den nassen Fleck auf Theresas Hose:
„Müssen Sie jetzt auch Windeln tragen?“
„Nein, zum Glück ist mir das erspart geblieben. L4/L5, falls Sie wissen, was das heißt.“
Die Frau schüttelt den Kopf und antwortet:
„Ich musste operiert werden. Der Oberhalsschenkel.“
„Oberschenkelhals“, korrigiert Theresa.
„Was? … Jedenfalls sicher nicht so schlimm wie bei Ihnen.“
Theresa nickt:
„Es war ja auch kein normaler Sturz – und keine normale Treppe, sondern nasser Beton. Jemand hat mich in einem U-Bahn-Schacht so angerempelt, dass ich das Gleichgewicht verloren habe.“
Die Alte schlägt die Hand vor den Mund:
„Wie furchtbar!“
„Yep. Um das Drama noch abzurunden: Meine Master-Thesis hat es ebenfalls erwischt. Die trug ich unter dem Arm. 74 Seiten frisch aus dem Drucker. Ich war auf dem Weg zum Copyshop, um sie binden zu lassen, als es passierte. Aber mit dem LWS-Schaden hätte mir dieser Master leider auch nichts mehr genutzt.“
Frau Anderson ist erschüttert:
„Wer, um Himmels Willen, hat Sie denn so angerempelt?“
„Das weiß ich leider nicht. Ein Mann. Es war sicher keine Absicht, nur ziemlich voll auf der Treppe. Und ich war abgelenkt, weil ich meinen Vater am Handy hatte. Doch der Typ ist einfach abgehauen und das ist die eigentliche Sauerei. Sonst hätte seine Versicherung wahrscheinlich etwas zahlen müssen. So habe ich keinen Cent gesehen.“

Die alte Frau schweigt betreten. Ihre Augen wandern wieder durch das Zimmer. Der helle Moment scheint vorbei zu sein.
„Wo bin ich?“
„In Ihrer alten Wohnung, Frau Anderson.“
„Und wer sind Sie? Wo sind denn meine ganzen Möbel?“
Beide schrecken auf als es klingelt. Theresa tätschelt den Handrücken der Frau, um sie wieder zu beruhigen:
„Alles gut. Wahrscheinlich ist das Ihr Sohn, um Sie abzuholen.“
Diese Auskunft scheint die Alte nicht zu besänftigen, deshalb schiebt Theresa gleich nach:
„Oder der Hipster vom Krankentransport. Mal sehen, wer schneller war. … Ich mache nur kurz die Tür auf. O.k.?“

„Hätte mir einer gesagt, wie viel Herrenbesuch ich heute erhalte, wäre ich vorher mal unter die Dusche gestiegen …“, denkt Theresa. Dabei interessiert sie sich nicht sehr für Männer. Andererseits: Für das hoch gewachsene Exemplar vor ihrer Tür hätte sie sich früher schon mal die Haare gekämmt. Theresa muss den Kopf in den Nacken legen, um sein Gesicht zu sehen. Es wirkt verschlossen.
„Herr Anderson, nehme ich an.“
„Richtig. Guten Tag.“
„Dann mal rein in die gute Stube. Sie kennen sich ja aus.“
Theresa rollt beiseite und lässt den Mann in den Flur treten. Seine Jeans und das hellblaue Hemd sitzen tadellos. Dazu trägt er schwarze Budapester. Alles sieht teuer aus.
„Im Wohnzimmer?“, fragt er beiläufig.
Sie nickt, doch er bleibt stehen.
„Wollen Sie vielleicht vorausgehen?“
Theresa muss über die Floskel lachen. Der Mann bleibt seelenruhig dabei. Keine peinliche Abbitte. Das imponiert ihr:
„Na, wenigstens hat er Stil, wenn schon keinen Charme.“
„O.k.“, erwidert Theresa, „dann gehe ich mal voraus.“

Sie schließt die Haustür und versucht, sich unauffällig die Haare etwas zu richten. Der nasse Fleck auf ihrer Hose ist ihr plötzlich peinlich. Die gesamte Trainingshose ist ihr in diesem Moment peinlich. Der Mann scheint sich nicht daran zu stoßen. Er blickt kurz auf sein vibrierendes Handy und sagt:
„Tut mir leid, dass Sie solche Umstände wegen uns haben. Das sind aber auch Vollidioten! Dabei hatte ich die Adresse des Heims nach dem Umzug gleich abgegeben. Sie muss ja oft zur Kontrolle in die Klinik.“
„Kann ich mir denken. Wie lange hat sie das schon?“
„Was meinen Sie? Die Beine oder den Kopf?“
„Den Kopf.“
„Das hat vor fünf Jahren nach der ersten OP angefangen. Erst ein Herzschrittmacher, dann etwas später der Oberschenkelhalsbruch. Danach war er hinüber, der Kopf. Scheiß-Narkosen.“
„Wie alt ist sie denn?“
„Fast 68.“

Aus dem Wohnzimmer hören sie Frau Anderson rufen:
„Peer? Bist du das?“
„Ja, Mutter.“
„Ja, Mutter? …“, feixt Theresa. „Wie antiquiert.“
Der Mann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Wenn Sie erlauben, gehe ich jetzt vielleicht doch vor.“
„Ich erlaube. Die Gnädige erwartet Sie schon sehnsüchtig.“
„Das glaube ich weniger“, widerspricht Peer und setzt sich gemütlich in Bewegung. Theresa folgt ihm auf den Fersen.

„Na, Mutter? Wo haben sie dich denn abgesetzt?“
Er sagt es, ohne ein Grußwort oder eine Berührung.
„Oh, Peer! Weißt du, wo meine ganzen Möbel sind?“
„Ja, klar. Die habe ich eingelagert.“
„Gelogen …“, denkt Theresa. Peers Mutter ist erschüttert:
„Aber, warum denn?“
„Weil ich dich in einem Pflegeheim unterbringen musste, wo man auf dich aufpasst. Du kannst ja nichts mehr alleine machen seit dem Beinbruch. Wir haben es doch probiert. Sieh dich mal um hier: alles barrierefrei. Ein Heidengeld hat mich das gekostet.“
Die Alte wirkt schon wieder überfordert:
„Und der Mondrian?“
„Der ist auch eingelagert.“
„Wieder gelogen.“ Theresa muss grinsen: „Ich wette, dass du längst alles zu Schotter gemacht hast.“

Peer sieht sich im Wohnzimmer um.
„Sie arbeiten wohl von zuhause? Was machen Sie?“
„Ich recherchiere.“
„Nach was suchen Sie?“
„Nach verloren gegangenen Personen.“
„Dann sind Sie eine Detektivin?“
„So was Ähnliches. Nur dass ich die Leuten nicht beschatte, wie Sie sich angesichts meiner misslichen Lage sicher denken können.“
Peer betrachtet die Ausrüstung auf Theresas Schreibtisch:
„Sie recherchieren online. … Sind Sie eine Art Hackerin?“
Theresa hebt abwehrend die Hände:
„Ich arbeite ausschließlich mit frei zugänglichen Daten.“
Peer scheint die Aussage zu belustigen:
„Das können Sie gern meiner Mutter erzählen. Die glaubt es vielleicht. Es geht mich auch nichts an. Keine Sorge, von mir erfährt keiner was.“
„Und wenn schon. Ich habe nichts zu verbergen. Ich zahle Steuern.“
„Was sind das für Leute, nach denen Sie suchen?“
„In der Regel Familien-Angehörige. Oft Erben. Vaterschaftsklagen sind auch sehr en vogue.“
Peer schnaubt:
„Ach, wirklich? Ich hätte da auch einen zu verklagen.“
Frau Anderson ist wieder eingenickt. Die Stimmen haben sie eigelullt. Sie sieht ganz friedlich aus.
„Tatsächlich?“, hakt Theresa nach.
„Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen. Um was geht es?“
„Der Kerl hat meine Mutter geschwängert und sich dann aus dem Staub gemacht. Auf nimmer wiedersehen. Da war ich zehn oder elf. Er war wohl verheiratet. Ich kann mich nur noch schwach an ihn erinnern, weil er nie bei uns gewohnt hat. Ich weiß, dass er Kai hieß und offenbar viel Kohle hatte. Ich habe oft Geschenke von ihm bekommen, und er hat eine teure Privatschule für mich bezahlt. Meine Mutter musste nie arbeiten. Dafür hat sie leider eine Verzichtserklärung unterschrieben. Für mich gleich mit, die dumme Nuss! Das würde ich gern anfechten, wenn ich wüsste, wo ich ihn finde.“

Theresa wirft einen Seitenblick auf die schlafende Frau, die sicher schon einiges mitgemacht hat in ihrem Leben.
„Immerhin besitzen Sie einen echten Mondrian.“
„Nicht mehr“, flüstert Peer hinter vorgehaltener Hand.
„Der finanziert jetzt das Pflegeheim.“
„Haben Sie noch Papiere dazu?“
„Nur eine Kopie. Es war kein bekanntes Gemälde. Ich fand ihn nicht mal gut. Wenigstens hilft er uns jetzt einigermaßen über die Runden. Vor drei Jahren hörte der Geldsegen nämlich auf. Ohne Vorankündigung.“
„Wie meinen Sie das?“
„Mein Vater hat kein Geld mehr überwiesen. Bis dahin habe ich mich um nichts kümmern müssen. Meine Mutter war bestens versorgt. Und dann klopfte plötzlich die Bank bei mir an die Tür.“
„Die Bank?“
„Ja, meine Mutter hatte ein tief rotes Konto und ich keinen Job mehr.“

Der letzte Satz treibt Peer die Röte ins Gesicht. Eine solche Reaktion hätte Theresa ihm gar nicht zugetraut. Sie möchte seine Schwäche noch etwas auskosten:
„Wie hängen diese beiden Sachen jetzt zusammen?“
Peer ringt nach den richtigen Worten:
„Gar nicht. Ich wurde nur zur gleichen Zeit gefeuert.“
„Vor fünf Jahren?“
„Ungerechtfertigterweise.“
„Natürlich.“
„Das hatte ich bis dahin für unmöglich gehalten. Sie mussten mich zwar abfinden, aber es war das schlimmste Jahr meines Lebens.“
„Unglaublich, was andere Menschen für das schlimmste Jahr ihres Lebens halten …“, denkt Theresa. Doch sie sagt:
„Ja, das war wirklich kein so gutes Jahr. Und dann?“
„Die ersten zwei Jahre habe ich nichts gemacht. Ich musste mich erst mal sammeln. Vor drei Jahren bin ich nach Berlin zurückgezogen. Auch wegen der Sache mit meiner Mutter. Aber es gibt auch eine spannende Startup-Szene hier. Ich bin Venture Capitalist, falls Ihnen das was sagt.“
Theresa nickt:
„Wie laufen die Geschäfte?“
„Bisher werfen nur zwei Objekte eine Rendite ab. Wenn sich das nicht bald ändert, habe ich ein ernsthaftes Problem.“
„Verstehe. Womit haben Sie denn vorher ihr Geld verdient?“
„Ich war Unternehmensberater.“
„Und wen haben Sie beraten?“
„Ich habe weniger beraten als vermittelt: Wenn Unternehmen verkauft wurden. Oder wenn sie fusionieren wollten.“
Theresa muss grinsen bei dem Gedanken:
„So einen wie dich hat mein Vater auch mal beauftragt. Das muss ein ähnlicher Kotzbeutel gewesen sein.“
„Was finden Sie daran so komisch?“, fragt Peer beleidigt.
„Gar Nichts. Ich musste nur gerade an etwas denken. Hat nichts mit Ihnen zu tun“, wehrt Theresa ab.

Der Kotzbeutel schweigt. Irgendwie behagt ihm das Gespräch nicht sonderlich. Deshalb wechselt er das Thema:
„Seit wann sitzen Sie im Rollstuhl?“
„Seit fünf Jahren. Wieso fragen Sie?“
„Nur so. Deshalb meinten Sie, es sei kein gutes Jahr gewesen.“
„Unter anderem. Ein bewegtes Jahr.“
„Muss ziemlich hart sein für Sie.“
Theresa zuckt mit den Schultern:
„Ich komme zurecht. Und ich habe eine Familie, die mich unterstützt. … Weiß Ihre Mutter denn nicht, wie ihr Vater heißt und wo er wohnt?“
„Aus der ist nichts herauszuholen. Sie macht jedes Mal dicht, wenn ich das Thema anschneide. Dann gerät sie so unter Stress, dass sie keinen geraden Satz mehr heraus bekommt.“
„Und Sie kennen nur seinen Vornamen? Kai, richtig?“
„Ja. Ich meine mich zu erinnern, dass er nach Düsseldorf gegangen ist. Ich kenne nur das Schweizer Nummernkonto, von dem jeden Monat das Geld überwiesen wurde. Da wird sicher ein ordentliches Vermögen dahinter stecken. Es ist doch zum Schreien ungerecht, dass ich als sein leiblicher Sohn nichts davon abbekommen soll, wenn er tot ist.“
Der blanke Hass blitzt in seinen Augen. Theresa denkt, dass sie diesen Hass nicht abbekommen möchte.

Sie denkt auch an den Mondrian, der mit Sicherheit mehr eingespielt hatte, als nur das Geld für ein Pflegeheim.
„Dieser Typ ist so gierig! Dem geht es nicht um den Vater, sondern nur ums Geld. Dabei sieht er weiß Gott nicht aus, als ob er am Hungertuch nagen würde.“
Sie überlegt:
„Was wäre es Ihnen wert, Ihren Vater zu finden? Mit solchen Sachen kenne ich mich schließlich aus. Ich bin sogar ziemlich gut darin.“
„Was wäre denn Ihr Preis?“
„250 Euro plus Mehrwertsteuer und Nebenkosten. Die Nebenkosten könnten wir auch über eine Pauschale regeln.“
„250 Euro für alles?“
„Sie Witzbold! Pro Stunde, natürlich.“
Theresa pokert hoch. So viel hat sie noch nie verlangt.
Peer pfeift durch die Zähne:
„Das sind ja Tagessätze wie zu meinen Beraterzeiten.“
Sie lächelt ihn an:
„Na prima, dann passt es doch.“

Peer scheint die Kosten im Kopf zu überschlagen und einige Probleme mit dem Ergebnis zu haben:
„Wie lange brauchen Sie im Schnitt?“
„Ganz unterschiedlich. Mal fünf Tage, mal fünf Wochen. Manchmal mehr. Je nachdem, was dem Auftraggeber die Sache wert ist.“
Peer wird bleich:
„Könnten wir das Ganze auch schwarz abwickeln?“
Theresa schüttelt den Kopf:
„Wegen Ihnen setze ich meine Existenz doch nicht aufs Spiel. Wie alle meine Kunden erhalten Sie eine Rechnung über Research-Leistungen. Die können Sie doch von der Steuer absetzen.“
Der Mann ist noch nicht überzeugt:
„Und wie läuft das Ganze ab?“
„Üblicherweise beauftragen mich Anwälte erst mal für zehn Stunden. Dann schauen wir, wie weit ich gekommen bin und wie aussichtsreich der Fall ist. Danach entscheiden wir, ob und wie wir fortfahren. Alles vertraglich geregelt.“
Peer denkt nach:
„Gut, ich überlege es mir und rufe Sie dann an.“
Theresa notiert ihre Handynummer auf einem Post-it:
„Hier, bitteschön. Ich bin gespannt, ob Sie sich trauen?“
„Was heißt da trauen? Ich habe nur Angst um mein Geld.“
„Dessen Einsatz sich bald amortisiert haben könnte, so wie Sie den Fall schildern. Trotzdem bekommen manche Leute noch kalte Füße beim Gedanken, mit ihrer Vergangenheit in Kontakt zu treten. Keine Ahnung, ob Sie dazu gehören.“
Peer lacht gehässig:
„Sicher nicht. Aber Sie haben schon Recht: Es könnte auch einiges dabei herausspringen. Für uns beide.“

Er rüttelt seine schlafende Mutter unsanft wach.
„Hey, Mutter, aufwachen! Wir gehen.“
Theresa tut sie wieder leid, die alte Frau.
„Was muss man als Mutter alles falsch machen, um so einen herzlosen Sohn zu verdienen? Im Pflegeheim ist die Arme auf jeden Fall besser aufgehoben als bei diesem Eisblock.“
Frau Anderson ist noch nicht ganz bei sich:
„Wo gehen wir denn hin? Ich bin müde und will lieber zuhause bleiben.“
„Das ist nicht mehr dein Zuhause, Mutter. Das ist nun das Zuhause von Frau …“
Er wendet sich Theresa zu:
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Ludger. Theresa Ludger.“
In Peers Gehirn beginnt es zu hämmern. Auch Frau Anderson scheint die Welt gerade nicht mehr zu verstehen:
„Wieso wohnt die Frau jetzt hier? Wo sind meine Möbel?“
„Lass gut sein, Mutter. Das musst du jetzt nicht verstehen. Ich bringe dich zurück ins Pflegeheim.“

Frau Anderson sitz eingefallen im Rollstuhl als ihr Sohn sie zur Tür hinausschiebt. In der Einfahrt parkt Peers grauer Mercedes. Ein Zettel steckt unter dem Scheibenwischer. Der Hausmeister im Vorderhaus verteilte diese Zettel gern, seit Theresa im Hinterhaus wohnte. Dabei besaß er gar kein Auto. Herbert Kroll stieß lediglich auf, dass es wegen Theresa zu Unregelmäßigkeiten in seinem Betrieb kam. Ständig baute sie darauf, dass die anderen Bewohner auf ihre Behinderung Rücksicht nahmen und ihre Arbeit miterledigten. Gegen ein paar Euro hätte er das als Hausmeister auch übernommen.

Peer zerknüllt den Zettel und wirft ihn weg. Er verfrachtet seine Mutter auf den Vordersitz und schnallt sie fest.
„Das ist wohl das Höchste an Zuwendung, was man von ihm erwarten kann …“, schießt es Theresa durch den Kopf.
Zuletzt verstaut Peer den Rollstuhl im Kofferraum. Dann setzt er rückwärts auf die Straße zurück, ohne noch einmal zu winken. Theresa winkt trotzdem. Sie winkt Frau Anderson ein letztes Mal zu, weil sie die alte Dame sicher nicht wiedersehen wird. Durch die getönte Scheibe kann sie erkennen, dass Frau Anderson lächelt und zurück winkt.

Im Auto sagt Frau Anderson zu ihrem Sohn:
„Armes Ding. Ist auch die Treppe runtergestürzt.“
„Ach, ja? Dann ist sie aber wirklich dumm gefallen.“
„Stimmt. Jemand hat sie angerempelt. In der U-Bahn.“
Peers Gesichtszüge versteinern:
„Weißt du, wo das war?“
„Na, in der U-Bahn.“
„Ich meine, in welcher Stadt.“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Naja, Sie scheint ganz gut damit klar zu kommen. Besser als du, jedenfalls. Da kannst du dir mal ne Scheibe abschneiden.“

Theresa verriegelt die Haustür und rollt zurück an ihren Schreibtisch. Dieses Intermezzo hat sie viel Zeit gekostet. Aber vielleicht kam ja was dabei herum. Als sie den Bildschirm entsichern will, klingelt es wieder.
„Das gibt’s doch nicht!“
Dann denkt sie:
„Vielleicht hat der Eisblock es sich schon anders überlegt und will mich gleich beauftragen.“
Erwartungsvoll fährt sie wieder zur Tür und findet den verschwitzten Hipster davor. Sein Minivan wartet mit Warnblinklicht in der Einfahrt. Ihr Nachbar würde bald Zettel nachdrucken müssen.
„Da bin ich wieder“, strahlt er sie an.
Theresa sieht auf ihre SmartWatch. Er hat sich deutlich verspätet.
„Na, sowas? Mit Ihnen habe ich gar nicht mehr gerechnet.“
Der Hipster setzt noch einmal seinen Dackelblick auf:
„Sorry, der Verkehr. Aber jetzt erlöse ich Sie wieder.“
„Nicht nötig. Alles schon erledigt.“
Er starrt sie fassungslos an. Sie genießt den Moment:
„Maximal eine Stunde, hatten wir vereinbart? Danach habe ich die alte Frau auf die Straße gestellt und die Klinik angerufen. Irgendwann war sie dann weg.“
Der junge Mann wird leichenfahl um die Nase:
„Sie verarschen mich doch …“
Theresa grinst:
„Stimmt. Ihr Sohn hat sie abgeholt und ins Heim gefahren.“
Diese Erklärung beruhigte den Hipster keineswegs.
„Schit!! Warum haben Sie nicht auf mich gewartet? Sie wissen, dass mich das meine Lizenz kosten kann.“
Theresa lacht hämisch:
„Haha … versuchen Sie erst gar nicht, mir Ihr schlechtes Gewissen unterzujubeln. Damit kommen Sie nicht durch. Außerdem war die Klinik Schuld. Die haben Ihnen eine alte Adresse aufgeschrieben. Die Frau hat vor mir hier gewohnt.“
„Woher wissen Sie das?“
„Berufsgeheimnis. Wenn alles gut läuft, können Sie vom Sohn noch eine Provision verlangen. Womöglich macht ihn der Fehler nämlich ein ganzes Stück reicher. Ich denke also nicht, dass es ein Nachspiel für Sie haben wird.“
Der Hipster kann ihr nicht folgen:
„Wie meinen Sie das?“
Theresa grinst:
„Das müssen Sie nicht verstehen. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn es soweit ist. Vielleicht kauft er Ihnen einen zweiten Wagen.“

***

Peer Anderson lässt sich eine Woche Bedenkzeit. Dann meldet er sich bei Theresa:

☎ „O.k. Wir haben einen Deal.“

☎ „Gut. Dann mache ich den Vertrag fertig.“

☎ „Ich brauche wirklich keinen Vertrag. Wer sich so rührend um meine Mutter kümmert, muss ein grundanständiger Mensch sein. Ich vertraue Ihnen voll und ganz.“

☎ „Schön. Ich vertraue Ihnen aber nicht. Schicken Sie die Rechnungsanschrift an meine E-Mail-Adresse. Sie steht auf dem Post-it unter der Handynummer. Ich sende Ihnen den Vertrag dann zurück. Sie unterschreiben und bringen das Dokument zusammen mit allem her, was mir helfen könnte, Ihren Vater aufzutreiben: Ihre Geburtsurkunde, die Papiere vom Mondrian, Fotos – falls Sie welche haben. Einen kurzen Abriss der Geschichte Ihrer Eltern. Was Sie noch wissen. Stichpunkte reichen. Alles, woran Sie sich erinnern, kann für mich von Bedeutung sein: Wo haben Sie als Kind gewohnt? Gibt es alte Mietverträge? Wo gingen Sie zur Schule? Wo haben Sie studiert u.s.w. Überall, wo Ihr Vater eine Rolle gespielt haben könnte, müssen wir schürfen. Ach ja, bevor ich es vergesse: Besitzen Sie oder Ihre Mutter noch etwas, wo wir DNA-Spuren sicherstellen könnten? Ein altes Spielzeug zum Beispiel. Und das Schweizer Nummernkonto, von dem das Geld überwiesen wurde, brauche ich auch.“

☎ „Klingt nach keinem Plan. Sonst noch was?“

☎ „Ich schicke Ihnen eine Liste zu. Wenn Sie alles bei mir abgeliefert haben, benötige ich circa zwei bis drei Wochen. Dann melde ich mich wieder bei Ihnen.“

***

Sechs Tage nach diesem Telefonat bringt Peer einen Karton vorbei. Dieses Mal hat Theresa ihre Haare gewaschen und sich in ihre einzige Bluse geworfen. Sie ist frisch gebügelt. Darunter trägt Theresa eine schwarze Aerobic-Hose. Peer stellt den Karton auf ihrem Schreibtisch ab, wo es wild aussieht. Dabei übersieht er einen leeren Plastikbecher. Er fällt zu Boden. Peer bückt sich und hebt ihn auf:
„Buttermilch. Witzig. Ich trinke gern Sojamilch bei der Arbeit.“
„Habe ich auch da. Wollen Sie eine.“
„Warum nicht?“, antwortet er aus Höflichkeit.
Theresa rollt in ihre Küche und öffnet die Kühlschranktür:
„Ich kann Ihnen aber nur Schoko-Geschmack anbieten.“
Peer, der im Wohnzimmer wartet und versucht, etwas von Theresas Notizen zu entziffern, will nicht kneifen und ruft zurück:
„Nehme ich auch.“
Mit zwei Bechern bewaffnet kehrt Theresa ins Wohnzimmer zurück. Sie öffnen die Aludeckel und prosten sich zu:
„Also dann: Auf ein erfolgreiches Projekt.“

Peer nimmt einen Schluck und beherrscht sich, das Gesicht nicht zu verziehen. Dann erinnert er sich, schon einmal Sojamilch mit Schoko-Geschmack getrunken zu haben. Wann war das gewesen? Dann erinnert er sich: vor fünf Jahren, am Tag seiner Entlassung. Er lächelt bitter und trinkt den Becher schnell leer, weil er nicht lange bleiben will. Die ganze Zeit schon fühlt er sich unwohl in Theresas Nähe. Dabei mag er sie mit ihrer nerdigen Art.

„Wollen wir kurz einen Blick in den Karton werfen? Spielzeug habe ich keins mehr gefunden.“
Theresa nickt. Gemeinsam gehen sie die muffigen Papiere durch. Peer beginnt zu niesen. Erst einmal, dann zweimal, dann dreimal. Theresa sieht ihn von der Seite an:
„Gesundheit! … Haben Sie eine Hausstaub-Allergie?“
Peer schüttelt den Kopf und greift sich an den Hals. Er wirkt panisch. Sein Gehirn spielt gerade Tetris mit verblassten Puzzle-Stücken. Theresa erschrickt:
„Alles o.k. mit Ihnen? Sie sehen irgendwie seltsam aus.“
„Gar nichts ist o.k.! …“, denkt Peer und schüttelt den Kopf.
„Gibt es einen Arzt hier in der Gegend?“, würgt er mühsam hervor.
Theresa nickt:
„Ja. Oben an der Straßenkreuzung ist mein Hausarzt.“
Peer niest weiter und beginnt jetzt auch noch zu husten. Seine Augen brennen und die Gesichtshaut spannt verdächtig.
„Können Sie da bitte anrufen und sagen, dass ich auf dem Weg bin? Sie sollen eine Kortison-Spritze aufziehen.“

Theresa sucht ihr Handy auf dem unordentlichen Schreibtisch:
„Fuck! Sie haben ganz dicke Augen und überall rote Pickel im Gesicht. Sieht aus wie Akne.“
Sie mustert Peer aufmerksam. Das entstellte Gesicht kommt ihr bekannt vor. Aber sie kann sich nicht vorstellen, wo sie es schon einmal gesehen haben sollte. Peer ringt nach Luft:
„Scheint eine Reaktion auf die Schoko-Sojamilch zu sein. Das würde einiges erklären. Ich hatte das schon einmal.“
„Oh Mann, dann beeilen Sie sich. Laufen Sie die Straße links hoch. Es ist das Eckhaus an der ersten Kreuzung rechts. Ich rufe gleich an, wenn Sie weg sind.“
Theresa begleitet Peer zur Haustür, um sie zu entriegeln. Draußen auf der Rampe hustet Peer sie an:
„Sagen – Sie – Bescheid – wenn – was – fehlt – .“
„Ja, ja, gehen Sie endlich. Kümmern Sie sich erst mal um sich selbst. Ich komme schon klar.“

Theresa sieht Peer nach, wie er prustend den Hof überquert. Leila, die pubertierende Tochter ihrer Nachbarn, kommt ihm entgegen. Sie hat auch Akne und dreht sich entgeistert um:
„Was hast du mit dem gemacht, Theresa?“
„Noch gar nichts. Aber versprich mir, dass du was Anständiges lernst. … Entschuldige, ich muss kurz telefonieren.“

Epilog

In den nächsten Wochen wird Theresa herausfinden, dass Peers Vater mit 87-prozentiger Wahrscheinlichkeit Besitzer einer internationalen Bekleidungskette war. Sie erinnert sich an den Namen Bertram, den Frau Anderson mehrmals mit einiger Dringlichkeit erwähnt hatte, und folgt ihrer Intuition. Da Kai Bertram vor drei Jahren verstorben ist, wird Peer von einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 2010 profitieren, die uneheliche Kinder den ehelichen nachträglich gleichstellt.

Obwohl Theresa an der Recherche keine vier Stunden sitzt, stellt sie Peer 2.500 Euro in Rechnung. Plus Nebenkosten. Der Geldgeier sollte ruhig etwas bluten. Für alles Weitere verweist sie ihn an Rechtsanwalt Arndt Huber aus München. Arndt Huber wird ein Vielfaches davon an Peers Fall verdienen, weil sich das Einklagen seines Pflichtteils über Jahre hinstreckt. Die Erben weigern sich zunächst, Kais Vaterschaft anzuerkennen, weil der Mann unter der Erde liegt und keine Stellung mehr dazu nehmen kann. Man kann ihm auch kein Stäbchen mehr in den Rachen schieben. Doch Arndt bleibt solange dran, bis der Richter der Exhumierung von Kais Leichnam zustimmt, um eine DNA-Probe zu entnehmen, sollten die Erben sich weiterhin unkooperativ zeigen.

Theresas Mutter wird endlich einwilligen, mehr Zeit in ihrem Haus auf Teneriffa zu verbringen, weil das Klima den Beinen ihres Mannes ganz offenkundig guttut. Nach einer Weile skypt sie nur noch einmal die Woche mit Theresa.

Bei Petra Winkler wird Theresa nur sehr langsam vorankommen. Aus mangelndem Interesse übersieht sie wichtige Details. Dabei hätte Judith Gerieder das Potenzial, Theresas schillerndster Fall zu werden, würde sie ihr nur mehr Beachtung schenken.

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